Die Suche nach der ersten Frau – Seite 1

Fußball ist auch das Erzählen von Geschichten. Abende am Tresen und Tage im und um das Stadion drehen sich immer wieder um Helden und Legenden. Neues wird mit Altem verglichen. Dafür braucht es natürlich historisches Grundwissen. Viele Fakten kann jeder Fußballinteressierte runterbeten: Charly Körbel hat die meisten Bundesligaspiele, Gerd Müller die meisten Tore. Jedes Kicker-Sonderheft präsentiert die Ewige Tabelle und zeigt uns, dass Tasmania Berlin der erfolgloseste Bundesligist der Geschichte ist. Die Eckdaten der Fußballgeschichte sind gut dokumentiert und werden immer wieder aufbereitet. Fragt man heute sein Smartphone: "Hey Google, wer schoss das erste Tor der Bundesliga?", kommt die Antwort umgehend: "Nach nur 35 Sekunden macht sich BVB-Stürmer Friedhelm 'Timo' Konietzka auf, das erste Bundesliga-Tor der Geschichte zu schießen."

Doch eins haben alle oben genannten Zahlen und Daten gemeinsam: Sie betreffen nur eine Hälfte des Fußballsports, die männliche.

Kein Kicker-Sonderheft fasst die Rekorde der Frauen-Bundesliga zusammen. Das Deutsche Fußballmuseum in Dortmund präsentiert uns keine Liste von Rekordhalterinnen. Nur das Internet hilft weiter. Ma Li schoss das erste Tor bei einer Frauenfußball-WM, 1991 war das, in China. Und die Antwort auf das erste Tor der Frauen-Bundesliga, die vor genau 30 Jahren ins Leben gerufen wurde, weiß der Sprachassistent von Google auch: "Iris Taaken vom SV Wilhelmshaven schoss das erste Tor – nach 55 Sekunden."

Auch auf Wikipedia, das immerhin von Abertausenden teils fußballverrückten Editoren gepflegt wird und seine Aussagen stets mit Quellen belegt wissen will, heißt es im Artikel Frauen-Bundesliga: "Erstes Tor in der Bundesliga: Iris Taaken (SV Wilhelmshaven)". Als Quelle wird auf das Frauenfußball-Bundesliga-Magazin 2000/01 verwiesen, welches vom DFB herausgegeben wurde und den beliebten Kicker-Sonderheften sehr ähnlich ist. Auf YouTube stößt man ebenfalls relativ schnell auf Iris Taaken und ihr Tor, auch wenn sie dort Ines genannt wird.

Nun könnte man darüber streiten, wieso es "Frauen-Bundesliga" heiß, während niemand "Männer-Bundesliga" sagen würde, aber es drängen sich größere Fragen auf: Stimmt das überhaupt? War es wirklich Iris Taaken, die das erste Tor für die Frauen schoss?

Stutzig machte nämlich ein Kommentar zu einem Tweet des Fußballpodcasts FRÜF (Frauen reden über Fußball) im Februar 2020, in dem ein Buch beworben wird. Freddy fragte dort: "Steht in diesem Buch zufällig, ob das erste Spiel des FSV in der Bundesliga um 11 angepfiffen wurde?!!"

Freddy, so wird schnell klar, ist Friederike Wenner und stand 1990 in der ersten Saison der Bundesliga mit damals gerade 15 Jahren im Tor des Bundesligisten TuS Binzen. Am ersten Spieltag ging die TuS mit 0:5 beim FSV Frankfurt unter. Aber wichtiger ist etwas anderes: Freddys Erinnerung nach fand das Spiel um 11 Uhr statt. Iris Taaken vom SV Wilhelmshaven schoss ihr geschichtsträchtiges Tor gegen den 1. FC Neukölln jedoch laut diversen Quellen um kurz nach 14 Uhr. Hat Wenner Recht, irren Google, Wikipedia und der DFB. Die Geschichte der Frauenfußballbundesliga müsste umgeschrieben werden. Die wahre Schützin des historischen Tors wäre eine andere.

Die Suche beginnt.

Eine erste kleine Recherche ergibt, dass die Bundesliga laut DFB-Durchführungsbestimmungen damals tatsächlich zwei Spielzeiten kannte – Sonntags um 11 Uhr und 14 Uhr. Aber am besten sollte es ohnehin der DFB als alleiniger Ausrichter der Frauen-Bundesliga wissen. Auf eine Anfrage teilt der aber mit: "Vielen Dank für Ihre freundliche Anfrage. Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass wir nicht über Aufstellungen in der Frauen Bundesliga Süd für den Zeitraum von 1990 – 1997 verfügen. Wir sind lediglich im Besitz von Kreuztabellen. [...] Für Aufstellungen zu Spielen müssen Sie sich an die jeweilige Mannschaft wenden."

Für die Männer-Bundesliga findet man im DFB-Datencenter übrigens die Aufstellung von wirklich jedem Bundesligaspiel seit 1963. Für Frauen gibt es dies erst ab der Saison 2003/04. Zum ersten Bundesligator hat der DFB aber tatsächlich einen Scan des oben genannten DFB-eigenen Magazins parat. Dort heißt es wörtlich: "Das erste Bundesligator: Das schoss Iris Taaken vom SV Wilhelmshaven in der Saison 1990/91." Das scheint als Primärquelle ein wenig dünn – aber auf weitere Nachfragen antwortet der DFB zunächst nicht mehr.

Recherchiert man alternativ zu Iris Taaken, so finden sich zahlreiche Quellen, die sie als erste Torschützin benennen. Alle sind aus diesem Jahrtausend, also jünger als das DFB-Magazin. Interessant: Nahezu alle Quellen erwähnen, dass Frau Taaken sich nie bewusst war, die erste Torschützin gewesen zu sein. Sie erfuhr davon erst Jahre später.

Wird hier Geschichte falsch erzählt?

Historisch: Das erste Tor der Frauen-Bundesliga © Hessischer Rundfunk

Die Zweifel an der offiziellen Version sind also da. Sollte es tatsächlich möglich sein, dass hier Geschichte schlicht falsch erzählt wird? Kann man als Fußballinteressierter hier sprichwörtlich Geschichte schreiben, wenn man nur intensiv genug recherchiert? Vor allem aber: Ist es denkbar, dass der DFB selbst so eine Recherche nie unternommen und kein Interesse an einer solchen hat?

Alle Informationen über den ersten Spieltag der zweigleisigen Bundesliga 1990/91 mussten also her. Dem Tipp des DFB folgend wurden alle Vereine angeschrieben, außerdem alle involvierten Landesverbände des DFB und zahlreiche Zeitungsarchive. Der große FC Bayern München antwortete mit der Gegenfrage, wo dieser Artikel erscheinen wird – und dann nie wieder. Andere Vereine existieren schon seit Jahren nicht mehr. Die Landesverbände reagierten höchst unterschiedlich, teils extrem interessiert und hilfreich, teils gar nicht. Die Torschützinnen eines Spiels vor nur 30 Jahren zu finden ist phasenweise nicht einfacher, als die genaue chemische Zusammensetzung des Kautschukballs der Azteken zu bestimmen – zumindest wenn es um Frauenfußball in Deutschland geht. Der DFB hat jedenfalls ähnlich gewissenhaft mitgeschrieben wie die schriftlosen Azteken vor 3.500 Jahren.

Schnell scheint klar, dass es keine Übersichten geben wird. Keine vorherigen Aufarbeitungen des gesamten Spieltages oder Zusammenfassungen von Magazinen oder Zeitungen aus der frühen Zeit der Bundesliga. So muss jedes Spiel einzeln rekonstruiert werden, um schließlich ein Bild des ersten Spieltags zu bekommen. Zahlreiche Telefonate mit Spielerinnen, Mails mit Landesverbänden, Besuche von Online- und Offline-Archiven und schriftliche Anfragen an Stadtarchive später ergibt sich langsam ein Bild.

Aber ausgerechnet die Details zum Spiel des SV Wilhelmshaven gegen den 1. FC Neukölln, das Spiel also, indem Iris Taaken das geschichtsträchtige Tor geschossen haben soll, sind extrem aufwendig zu ermitteln, weil beide Vereine nie antworten. Nach mehreren Monaten aber tauchen plötzlich zwei Quellen an einem Tag auf. Eine Bekannte in Berlin findet einen Artikel zu Neukölln im Archiv in Berlin, während die Wilhelmshavener Zeitung um einen Rückruf bittet.

Und dann kommt es: Beide Quellen nennen unterschiedliche Torschützen. In der Wilhemshavener Zeitung vom 03.09.1990 heißt es: "Die Gastgeberinnen hatten einen furiosen Start, denn schon nach 56 Sekunden zappelte der Ball im Berliner Netz. Sandra Rosanowski hieß die Schützin, Martina Haschen hatte geflankt." In der Nordwest-Zeitung vom selben Tag heißt es hingegen, dass der "Torreigen vor 600 Zuschauern bereits nach zwei Minuten durch Iris Taaken" begann. Verwirrung, aber viel wichtiger war folgende Info, in der sich beide Blätter einig sind: Sie bestätigen die Anstoßzeit von 14 Uhr.

Wer auch immer also das erste Tor um 14 Uhr schoss, kann nicht die erste Torschützin gewesen sein, weil drei Spiele bereits um 11 Uhr stattfanden: TUS Niederkirchen gegen die SG Praunheim, der SC 07 Bad Neuenahr gegen den VfL Ulm/Neu-Ulm und der FSV Frankfurt gegen die TuS Binzen von Freddy Wenner. Irgendeine der Spielerinnen dieser Teams musste also das erste Tor der Ligageschichte erzielt haben.

Ein Blick auf das in unseren Recherchen gesammelte Archivmaterial zeigt dann recht schnell: Die ersten Torschützinnen der 11-Uhr-Spiele waren Katja Bornschein vom FSV Frankfurt (11:05 Uhr), Carmen Schäfer von der SC 07 Bad Neuenahr (11:09 Uhr) und Ingrid Zimmermann von der SG Praunheim (12:02 Uhr). Iris Taaken ist nur die insgesamt zehnte Torschützin des 1. Spieltags der Premierensaison 1990/91.

Die Geschichtsbücher müssen umgeschrieben werden. Es sind ja nicht so viele. Die erste Torschützin der Bundesliga ist also Katja Bornschein. Freddy Wenner kassierte in der Tat das erste Gegentor und hat ein exzellentes Gedächtnis.

Wir kontaktieren Katja Bornschein. Sie ist nicht überrascht, sondern sagt: "Meine Geschichte habe ich immer so erzählt, dass ich das erste Tor der Bundesliga geschossen habe, aber es keiner mehr weiß, weil es verwechselt wurde." Früher hat sie sich öfter darüber geärgert, gibt sie zu, mittlerweile ist sie aber der Meinung, dass es das nicht wert sei. Trotzdem freut sie sich, "dass es endlich richtig gestellt ist und Freddy und ich endlich zu dieser Ehre des ersten Tors kommen". Freddy Wenner freut sich scherzhaft nun bereits auf eine Einladung von Dunya Hajali zum Aktuellen Sportstudio.

Katja Bornschein würde auch hingehen. Auch weil sie, auf das erste Tor angesprochen, feststellt, dass ihr Spielerinnen-Profil auf der Homepage des DFB sie nur als ehemalige Spielerin des SC Freiburg ausgibt. "Laut DFB habe ich also nie beim FSV Frankfurt gespielt. Das zeigt schon sehr viel", sagt sie. Vor allem weil sie während ihrer Zeit beim FSV zur Nationalspielerin wurde.

"Ich kann auch gut ohne diesen Titel leben"

Statt Euphorie über die Entdeckung und Erleichterung nach einer langen Recherche stellt sich so vor allem Ernüchterung ein. Es bleibt der fade Beigeschmack, dass dem DFB die Geschichte einer seiner zwei höchsten Ligen scheinbar so egal ist, dass eine Falschmeldung zwei Jahrzehnte überlebte und immer wieder vom Verband selbst verbreitet wurde.

Zum Schluss unserer Recherche haken wir noch mehrmals beim DFB nach. Diese Hartnäckigkeit zahlt sich am Ende aus. Der DFB bestätigt unsere Recherchen tatsächlich und liefert uns schließlich sogar genau die Daten, deren Existenz er monatelang verneinte. Dennoch: Sämtliche Daten aus den Ligen der Männer wurden aufgearbeitet und im Online-Datencenter des DFB veröffentlicht – die der Frauen nur teilweise. Dem DFB ist das Problem bewusst, er scheint es aber zugleich nicht anzugehen.

Das Problem aber geht weit über den DFB hinaus. Das kollektive deutsche Fußballgedächtnis weiß nahezu nichts über die Anfänge dieser wichtigen Liga. Das deutsche Fußballmuseum, laut DFB-Homepage der "Ort des Bewahrens [der] Fußballgeschichte", ignorierte Anfragen über Wochen hinweg und teilte schließlich mit, dass sie nichts über das erste Tor wissen. Es stellt zu den dreißig Spielzeiten der Bundesliga der Frauen auch kaum Exponate aus.  

Brachte die Geschichte mit einer Nachfrage ins Rollen: Freddy Wenner, hier im Jahr 2017. © Kerstin Rolfes

Nur durch die mangelhafte Dokumentation und Aufarbeitung der Frauenfußballgeschichte durch den Verband ist es überhaupt möglich, dass Iris Taaken erst zehn Jahre nach ihrem Treffer von dessen Tragweite erfuhr – und nun erfahren musste, dass der DFB sie leider all die Jahre getäuscht hatte. Sie ist dann auch enttäuscht. "Ich kann aber auch gut ohne diesen Titel leben", sagt sie.

Vor 50 Jahren hob der DFB das Verbot für Frauenfußball auf und vor 30 Jahren gründete er endlich eine Bundesliga für den Frauenfußball – es gäbe also kaum einen besser passenden Moment, alle drei Spielerinnen zu würdigen. Katja Bornschein, Iris Taaken und Freddy Wenner sind mehr als Namen auf einer Ehrentafel. Sie leisteten Pionierarbeit in ihrer Sportart und sind gerade wegen ihrer sehr unterschiedlichen Geschichten im deutschen Spitzenfußball faszinierende Persönlichkeiten. Sie alle verkörpern bis heute eine Geschichte, die der DFB ausschließlich aus männlicher Perspektive erzählt. Sollte der DFB ernsthaft den Weg in die Moderne suchen, sollte er seinen eigenen Heldinnen endlich zuhören.