Workshop: Wirtschaftsblockaden – eine „zivile Alternative“ zu Krieg?

Dieser Text beruht auf meinem Beitrag auf dem Friedensratschlag am 10.12.2022 in Kassel. Es ist eine aktualisierte und um einige Aspekte, wie die nachgewiesene geringe Wirksamkeit von wirtschaftlichen Zwangsmaßnahmen, erweiterte Version meiner früheren Beiträge.

Der erste Teil erschein etwas gekürzt in junge Welt v. 07.01.2023 unter dem Titel „Keine »zivile« Alternative

In der Vhs Essen hielt ich am 25. Januar eine etwas aktualiserte Version des Vortrags: hier die Videoaufname davon.

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Das Thema, um das es nun gehen wird, beschäftigt mich schon seit vielen Jahren. Anfang der 1990er Jahre schuf die US-Blockade gegen Kuba, nach Wegfall seiner osteuropäischen Partner schwerwiegende Versorgungsprobleme auf der Insel. Bald darauf stieß ich auf noch alarmierendere Informationen über die Auswirkungen des Embargos gegen den Irak und gründete zusammen anderen Aktiven aus der Friedensbewegung und ehem. UN-Mitarbeitern, wie Hans v. Sponeck, die Initiative gegen das Irakembargo. Diese wurde zwar obsolet, als die USA und ihre Koalition der Willigen von der Belagerung zum Angriff übergingen, das Thema Wirtschaftssanktionen aber nicht. Obwohl immer mehr ausgeweitet, wurden sie in der Öffentlichkeit jedoch kaum beachtet.
Das hat sich nun stark geändert, das Thema wurde in den letzten Monaten immer brisanter. Angesichts der Mehrfachkrise ‒ Krieg, Energiekrise, Inflation ‒ und ihrer wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen nehmen zwar auch hierzulande Protestaktionen zu. In der Linken scheiden sich dabei aber die Geister in der Frage, ob auch die Wirtschaftsblockaden gegen Russland thematisiert werden sollen oder dürfen.

Sie finden in Deutschland, wie anderen europäischen Ländern, weiterhin viel Zuspruch. Einer Forsa-Umfrage im Oktober zufolge glaubt zwar eine Mehrheit der Deutschen (57 Prozent der Befragten), dass die gegen Russland verhängten Embargo-Maßnahmen Deutschland mehr schaden als Russland. Dennoch spricht sich nur eine Minderheit von 30 Prozent für eine Lockerung (18 Prozent) oder eine völlige Aufhebung (12 Prozent) aus.

Angesichts der Stimmungsmache in den Medien ist dies wenig verwunderlich, wird Kritik an den Wirtschaftsblockaden doch genauso als Verrat am gemeinsamen Kampf gegen Russland oder gar als Parteinahme für Moskau diffamiert, wie Kritik an Waffenlieferungen. Die Frage, ob mit den Embargomaßnahmen das Ziel überhaupt erreicht werden kann und ob die humanitären Kosten und wirtschaftlichen Schäden zu rechtfertigen sind, wird gar nicht erst gestellt.

Kritik an Wirtschaftsblockaden allgemein

Da auch Embargomaßnahmen gegen andere Länder sehr umstritten sind, werde ich zunächst auf die allen zugrunde liegende Problematik von umfassenden Wirtschaftssanktionen eingehen. Andere Formen von Sanktionen lasse ich dabei beiseite, obwohl auch diese oft kritikwürdig sind.

In erster Linie geht es um die Wirtschaftssanktionen, die eigenmächtig von einem oder mehreren Staaten gegen einen anderen Staat verhängt werden, ohne von diesem angegriffen oder auf andere Weise geschädigt worden zu sein, es sich also völkerrechtlich nicht um eine „Gegenmaßnahme“ handelt.[1] In diesen Fällen ist der Begriff „Sanktionen“ allerdings irreführend. Denn nichts und niemand gibt einem Staat wie den USA oder einem Staatenbündnis wie der EU in solchen Fällen das Recht, selbstherrlich Strafmaßnahmen zu verhängen. Dazu ist allein der UN-Sicherheitsrat legitimiert. In UN-Dokumenten werden sie daher als „unilaterale Zwangsmaßnahmen“ bezeichnet.

Willkür durch „Recht des Stärkeren“

Es gibt auf internationaler Ebene viele verschiedene Arten solcher Zwangsmaßnahmen ‒ gegen gegnerische Staaten als Ganzes oder gegen einzelne Personen, Einrichtungen oder Firmen solcher Staaten. Ich werde mich im Folgenden auf massive, umfassende Handels-, Finanz- und Wirtschaftsblockaden konzentrieren, die sich gegen zentrale Wirtschaftsbereiche des betroffenen Landes richten.

Häufig werden die von westlichen Staaten verhängten Zwangsmaßnahmen damit begründet, Menschenrechte in den betroffenen Ländern verteidigen oder durchsetzen oder, wie im Fall des russischen Einmarschs in die Ukraine, Völkerrechtsverstöße bestrafen zu wollen. Tatsächlich verstoßen eigenmächtige Zwangsmaßnahmen jedoch meist selbst gegen internationales Recht und Menschenrechte.

Praktisch können sie nur von wirtschaftlich starken, wenn nicht dominierenden Mächten oder Bündnissen verhängt werden. Daher ist ihr Einsatz auch entsprechend selektiv. Tatsächlich werden sie auch fast ausschließlich von den USA und ihren Verbündeten verhängt und das in zunehmendem Ausmaß. Solche Mächte können gleichzeitig sicher sein, dass sie selbst nie Ziel solcher Maßnahmen werden, selbst nicht bei schlimmsten eigenen Verbrechen, wie den Kriegen gegen Jugoslawien, Irak oder Libyen.

Daher fördern sie keineswegs die „Stärke des Rechts“, wie u. a. führende Grüne hierzulande gerne ins Feld führen, sondern setzen auch nur das „Recht des Stärkeren“ durch. Selbst in Fällen, in denen uns die Gründe berechtigt erscheinen, sind es letztlich doch Akte der Willkür.

Hinzu kommt, dass die vorgebrachten Gründe meist mehr als zweifelhaft sind und zumindest vor Doppelmoral nur so strotzen. Bei genauerem Hinsehen, werden die Blockaden offensichtlich vorwiegend in Verfolgung eigener Interessen verhängt ‒ ausnahmslos gegen Länder, die als Gegner oder Rivalen angesehen werden oder ihren wirtschaftlichen und geopolitischen Interessen im Wege stehen. Auf der anderen Seite haben andere Staaten, wie die Türkei oder Saudi-Arabien, trotz ihrer Kriege und Menschenrechtsverletzungen, keine umfassenden Blockaden zu befürchten, sondern bleiben enge Verbündete.

Die USA haben mittlerweile ‒ allein oder zusammen mit den EU-Staaten – gegen rund 40 Länder solche eigenmächtigen Maßnahmen verhängt ‒ faktisch gegen ein Drittel der Menschheit. Einige, wie die Wirtschaftsblockaden gegen Kuba, Iran, Venezuela, Nord-Korea und Russland, sind allgemein bekannt. Die verheerenden Folgen der Blockaden gegen bereits völlig verarmte Länder wie Nicaragua, Mali, Simbabwe oder Laos hat jedoch kaum jemand auf dem Schirm.

Versorgungsmängel vorprogrammiert

Natürlich wird von westlicher Seite stets beteuert, dass ihre Maßnahmen sich allein gegen die jeweilige Regierung, das jeweilige Regime, richten würden. Doch selbst wenn dies tatsächlich der Fall wäre, liegt es auf der Hand, dass sie, sobald sie effektiv sind, d. h. den Handel und die Wirtschafft wirksam einschränken, sie stets in erster Linie die Bevölkerung treffen, vor allem deren ärmere, verletzlichsten Teile.

Kritik wegen der schädlichen Auswirkungen auf die betroffenen Menschen wird meist mit dem Hinweis zurückgewiesen, humanitäre Güter wie Nahrung und Medizin seien doch von den Blockaden ausgenommen. Das ist zwar formal richtig, in der Sache aber eine bewusste Irreführung. Tatsächlich sind Versorgungsengpässe bei umfassenden Blockaden, sobald sie wirken, stets vorprogrammiert. Handelsblockaden behindern zwangsläufig jeglichen Import und verteuern ihn. Gleichzeitig verlieren die Länder durch Wegfall ihrer Exporte auch die zum Einkauf nötigen Devisen.

Wenn betroffene Länder zusätzlich auch vom internationalen Zahlungsverkehr und Kreditwesen ausgeschlossen werden, können sie nicht auf übliche Weise bezahlen, auch Transportmöglichkeiten brechen weg. All dies und die Sorge, unversehens gegen eine unbekannte Bestimmung im undurchsichtigen Geflecht der Embargoregeln zu verstoßen, lassen Lieferanten abspringen oder drastische Preisaufschläge fordern.

In der Regel fallen auch immer sogenannte „Dual Use“-Güter unter die Blockadebestimmungen, also Güter, die zivil und militärisch genutzt werden können. Da es eine sehr große Bandbreite von Produkten gibt, die u. U. auch militärisch genutzt werden können, wird dadurch die Eigenproduktion stark beeinträchtigt ‒ von Maschinen und Ersatzteilen bis hin zu Pflanzendünger, Desinfektionsmitteln und Medikamenten.

Die heutigen Gesellschaften beruhen auf einem komplexen Netz unentbehrlicher Infrastruktur. Wenn z. B. aus Mangel an Ersatzteilen immer mehr Pumpen ausfallen, kann gebietsweise die Trinkwasserversorgung zusammenbrechen oder können ‒ durch Ausfall des Abwassersystems ‒ ganze Stadtteile im Sumpf versinken und sich Cholera- und Typhus-Seuchen ausbreiten. Erhalten Bauern nicht mehr genug Saatgut und Dünger, bricht auch noch der Selbstversorgungsanteil an Lebensmitteln zusammen.

Wenn mehrere solche Faktoren zusammenwirken, entstehen schnell lebensbedrohliche Notlagen. Richtig mörderisch wird es, wenn die USA ihre dominierende Stellung in Wirtschaft und Finanzwesen zu nutzen suchen, um Gegner durch vollständige Blockaden völlig zu strangulieren, indem sie Drittländer durch Androhung von sogenannten „sekundären“ oder „extraterritorialen Sanktionen“ zwingen, sich den Embargomaßnahmen anzuschließen.[2]

Da eine solche Ausweitung des Erpressungsregimes das Risiko von Banken, Reedereien, Industrieunternehmen etc., unversehens in dessen Mühlen zu geraten, noch mal enorm verschärft, führt dies auch zu schweren Engpässen dort, wo die blockierenden Mächte Ausnahmen aus humanitären Gründen explizit eingeräumt haben. Dieses Problem der „Übererfüllung“ von Zwangsmaßnahmen erschwert durch seine unkontrollierte Streuwirkung vor allem auch die Arbeit von Hilfsorganisationen vor Ort massiv.

Der „stille Tod“

Andauernde Wirtschaftskriege können auf diese Weise mehr Opfer fordern als militärische. So kostete das umfassende Embargo gegen den Irak von 1990 bis 2003 mehr als einer Million IrakerInnen das Leben, darunter ca. 500.000 Kindern.[3] Dass solche Todesopfer offenbar einkalkuliert sind, belegt das berühmt-berüchtigte „Ja“ der damaligen Außenministerin der USA, Madeleine Albright, als sie gefragt wurde, ob diese 500.000 tote Kinder „den Preis wert waren“, den Preis dafür, die unbotmäßige einstige Regionalmacht am Boden zu halten.

Die aktuellen Handels- und Finanzblockaden gegen Länder wie Syrien, Venezuela oder Kuba wirken sicherlich nicht so verheerend wie das Irakembargo. Doch töten ohne Zweifel auch sie. So forderten die US- und EU-Sanktionen gegen Venezuela nach Schätzungen des Washingtoner Forschungsinstituts Centre for Economic and Policy Research (CEPR) bereits zwischen 2017 und 2018 ca. 40.000 Menschenleben.[4] Die Situation hat sich dem jüngsten Bericht der aktuellen UN-Sonderberichterstatterin über negative Folgen eigenmächtiger Zwangsmaßnahmen, Alena Douhan, noch verschlechtert.

Selbst in einem Land wie dem Iran, der die Lage noch recht gut im Griff hat, führen die von Trump wieder verschärften Blockademaßnahmen zu massiven Versorgungsengpässen.

So können mangels der dafür notwendigen spezifischen, teuren Medikamente diverse lebensrettende Therapien nicht weiter durchgeführt werden. Früher stellte das Land 95% seiner Medikamente selbst her. Es mangelt aber zunehmend an den nötigen hochwertigen Rohstoffen, Technologien und Ersatzteilen. Für viele Patienten sind die Sanktionen, wie die renommierte US-Zeitschrift Foreign Policy schon 2019 berichtete, tödlich.[5]

Auch viele Gesunde geraten zunehmend in eine prekäre Lage, so Alena Douhan nach ihrem kürzlichen Besuch des Landes. Die von ihr als völkerrechtswidrig angesehenen Sanktionen würden den Menschen die Luft zum Atmen abschnüren.[6] Der Gesundheitszustand der Bevölkerung verschlechtert sich, die Sterblichkeitsrate steigt und die Lebenserwartung sinkt.

Kuba, das seit fast 60 Jahren mit einer Wirtschafts-, Handels- und Finanzblockade der USA konfrontiert ist, hat deswegen immer wieder mit schweren Versorgungsengpässen zu kämpfen. Das kubanische Gesellschaftssystem sorgt zwar dafür, dass niemand hungert, das Land wird aber durch das Embargo massiv in seiner Entwicklung gehemmt, insbesondere da sich aufgrund der Androhung „extraterritorialer Sanktionen“ auch Unternehmen aus der EU und anderen Staaten der Blockadepolitik unterwerfen.

Die Situation in Syrien ist noch dramatischer. Schon im Mai 2019 berichtete der damalige UN-Sonderberichterstatter, Idriss Jazairy, dass die Auswirkungen der Wirtschaftsblockaden der USA und der EU auf die Bevölkerung in den vergangenen Jahren verheerender wirkten als die des Krieges. Ihre Opfer würden nun nur „einen stillen Tod“ sterben.[7] Seine Nachfolgerin, Alena Douhan hat nach ihre Syrienreise Anfang November, erneut dringend ihre Aufhebung gefordert. Sie hätten eine vernichtende Wirkung auf die syrische Zivilbevölkerung und verhinderten nach elf Jahren Krieg den Wiederaufbau des Landes und damit auch die Rückkehr von Millionen Flüchtlingen.[8]

„Mittelalterliche Belagerungen“

Die schädlichen Auswirkungen auf die Bevölkerung der angegriffenen Länder ist aber keineswegs nur ein unerwünschter Nebeneffekt, sondern gehört – entgegen allen Beteuerungen – zum Kalkül. Schließlich soll durch die negativen Auswirkungen auf die Bürger des betroffenen Landes, öffentlicher Druck auf die Regierung aufbaut werden, den Forderungen der blockierenden Mächte nachzugeben.

Gary Hufbauer, einer der führenden US-amerikanischen Experten für Sanktionen, vergleicht ihre Wirkung mit Flächenbombardements, die schmerzhaft sehr viele Menschen treffen, die keinerlei Einfluss auf die Politik ihres Landes haben.[9]

Oft, wie im Fall Kuba, Syrien, Iran oder Venezuela, werden mit ihnen auch offen „Regime Changes“ angestrebt, indem versucht wird, die Bevölkerung durch eine drastische Verschlechterung der Lebensbedingungen zum Aufstand zu nötigen. Alle Bürger der betroffenen Länder werden so als Geiseln genommen.

Dies stößt seit langem auf vernichtende Kritik von Menschen- und Völkerrechtlern. So konstatierte der renommierte belgische Völkerrechtler Prof. Marc Bossuyt bereits im August 2000 in einem Gutachten für die UN-Menschenrechtskommission:

„Die ‚Theorie‘ hinter Wirtschaftssanktionen ist, dass ökonomischer Druck auf die Zivilbevölkerung in Druck auf die Regierung übersetzt wird, ihre Politik zu ändern. Diese Theorie ist bankrott, sowohl rechtlich wie praktisch.“ [10]

„Praktisch bankrott“ ist diese Theorie nicht nur aufgrund ihrer massiv schädlichen humanitären Auswirkungen, sondern auch weil Wirtschaftssanktionen bisher kaum positive Erfolge brachten. Wie eine größere Zahl von Studien belegt, zeigten umfassenden Zwangsmaßnahmen generell meist wenig Wirkung. Noch nie konnten sie einen Krieg beenden und nur selten konnten sie auch, wie eigentlich zumindest inoffiziell angestrebt, die Bevölkerung zu einer erfolgreichen Revolte gegen ihre Machthaber anstacheln und gegnerische Regierungen zu Fall bringen.

Stattdessen haben, so Wissenschaftler, die solchen Zielen durchaus positiv gegenüberstehen, Wirtschaftssanktionen die Position der herrschenden Eliten eher gefestigt als geschwächt, da der Angriff von außen die Mehrheit der Bevölkerung dazu veranlasste, enger mit der politischen Führung zusammenzurücken („Rally-’round-the-Flag-Effekt“). Gleichzeitig erhöht sich zwangsweise der Druck auf oppositionelle Kräfte, die leicht der Subversion und Unterstützung des Feindes beschuldigt werden können. Statt, wie offiziell oft behauptet, durch Sanktionen eine Demokratisierung zu erzwingen, schränken sie die Möglichkeiten fortschrittlicher Kräfte, demokratische oder soziale Verbesserungen durchzusetzen, drastisch ein ‒ in einer belagerten Burg gedeiht keine Demokratie.

Der einstige Sonderberichterstatter des UN-Menschenrechtsrates für Lateinamerika, Alfred De Zayas, brachte die grundsätzliche Problematik der vom Westen betriebenen Sanktionspolitik sehr gut auf den Punkt: Grundsätzlich seien Wirtschaftssanktionen vergleichbar mit „mittelalterlichen Belagerungen von Städten“, die zur Kapitulation gezwungen werden sollten. „Die Sanktionen des 21. Jahrhunderts versuchen aber nicht nur eine Stadt, sondern souveräne Länder in die Knie zu zwingen.“ Im Unterschied zum Mittelalter, würden die Blockaden des 21. Jahrhunderts „von der Manipulation der öffentlichen Meinung durch ‚Fake News‘, einer aggressiven PR-Arbeit sowie einer Pseudo-Menschenrechtsrhetorik begleitet werden, um den Eindruck zu erwecken, dass das ‚Ziel‘ der Menschenrechte kriminelle Mittel rechtfertigt.[11]

[Die breit gefächerten Angriffe auf gegnerische Länder werden im Westen flankiert von einer Ideologie, die die westlichen „Werte “ und Regeln als Maß für jede Gesellschaft setzt und die die Staaten der Welt in Gut und Böse einteilt. Das Völkerrecht soll dabei durch eine „regelbasierte Ordnung“ ersetzt werden, mit Regeln, die vom Westen nach westlichen Interessen festgelegt und durch ein immer ausgedehnteres Sanktionssystem durchgesetzt werden sollen.[12] ]

Umfassende Wirtschaftsblockaden sind letztlich eine Form moderner Kriegsführung und mittlerweile auch die am häufigsten angewandte. Da sie unblutig daherkommt, ist es leichter, dafür öffentliche Unterstützung zu finden oder, wenn nicht, sie auch so, ohne größere Aufmerksamkeit zu wecken, weitgehend unangefochten einzusetzen.

Da sie nicht direkt Menschen töten, sind sie irgendwie eine akzeptable Form der Aggression“, so Simon Jenkins im Guardian.„Sie beruhen auf der neoimperialen Annahme, dass westliche Länder das Recht haben, die Welt so zu ordnen, wie sie es wünschen. Sie werden durchgesetzt, wenn nicht durch Kanonenboote, so doch durch kapitalistische Macht in einer globalisierten Wirtschaft.

Galt die „Verflechtung der Weltwirtschaft, lange Zeit als Instrument des Friedens“, so Jenkins weiter, so sei sie jetzt „zu einer Kriegswaffe geworden“. [13]

Wirtschaftskriege werden von US-Politkern auch offen als günstigere Alternative zu militärischen Interventionen gepriesen, da sie wesentlich geringere Risiken und Nebenwirkungen für die Angreifer bergen ‒ besonders nach den Desastern im Irak und in Afghanistan. Doch auch diese Kriege sind zerstörerisch und können in den betroffenen Ländern Jahrzehnte des Fortschritts in den Bereichen Gesundheitsversorgung, sanitäre Einrichtungen, Wohnungsbau, Basisinfrastruktur und industrieller Entwicklung zunichtemachen. Sie bergen zudem, wie die Geschichte zeigt, stets die Gefahr, in eine offene militärische Konfrontation zu eskalieren.

„Die übermäßige Anwendung von Sanktionen“, so der US-amerikanische Historiker Nicholas Mulder, „ist zu einer Hauptquelle internationaler Instabilität geworden. Anstatt die internationalen Rivalitäten zu verringern, verschärfen Sanktionen sie jetzt noch.“ [14]

Gegen Völkerrecht und UNO-Mehrheit

Schon aufgrund ihrer zwangsläufigen negativen Folgen, lehnt die überwiegende Mehrheit der UN-Mitgliedstaaten eigenmächtige Blockaden grundsätzlich ab. Dies schlägt sich auch seit langem in regelmäßigen Resolutionen sowohl der UN-Vollversammlung als auch des UN-Menschenrechtsrats nieder.[15] Bereits 1991 forderte die UN-Generalversammlung, „dringend wirksame Maßnahmen zu ergreifen, um die Anwendung einseitiger wirtschaftlicher Zwangsmaßnahmen gegen Entwicklungsländer durch einige Industrieländer zu unterbinden, die das Ziel haben, direkt oder indirekt Zwang auf die souveränen Entscheidungen der von diesen Maßnahmen betroffenen Länder auszuüben.“ [16]

Eigenmächtige, nicht von UN-Organen autorisierte Zwangsmaßnahmen, so der Tenor aller späteren Resolutionen, widersprechen den Normen und Grundsätzen für friedliche Beziehungen zwischen Staaten. Sie stellen, wie es z. B. in der UN-Resolution vom Dezember 2013 heißt, „eine eklatante Verletzung der Prinzipien des Völkerrechts sowie den Grundprinzipien des multilateralen Handelssystems dar.“

Sobald die Blockade des Außenhandels eines Landes das Leben der Bevölkerung als Ganzes bedroht, sind umfassende ökonomische Blockaden zudem auch schwere Menschenrechtsverletzungen. Dies gilt selbst im Fall von Sanktionen, die vom UN-Sicherheitsrat verhängt wurden.

Sie verstoßen dann u. a. gegen die in der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ von 1948 fixierten Rechte. Zu diesen zählen das Recht auf Leben, auf angemessene Ernährung und Gesundheitsversorgung sowie auf soziale Sicherheit. Sie verstoßen auch offensichtlich gegen die verbindlichen Bestimmungen desInternationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte“ von 1966, den alle westl. Staaten unterzeichnet haben. Dort heißt es schon zu Beginn, in Artikel 1: “In keinem Fall darf ein Volk seiner eigenen Existenzmittel beraubt werden.” Sobald Blockaden die Versorgung erheblich beeinträchtigen, wie im Jemen, Afghanistan oder in Syrien, verstoßen sie zudem nach Ansicht vieler Völkerrechtler auch gegen die Genfer Konvention, die das Aushungern der Zivilbevölkerung verbietet.

Schließlich sind Blockaden auch eine Form kollektiver Bestrafung, die generell in völligem Gegensatz zu den Grundprinzipien des Rechts steht.

Die UN-Sonderberichterstatterin Alena Douhan geht davon aus, „dass etwa 98 Prozent der heute verhängten einseitigen Sanktionen gegen die internationalen Verpflichtungen der Staaten verstoßen.“[17] Obwohl sie „meist im Namen der Menschenrechte, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit verhängt“ werden, würden sie „genau diese Grundsätze, Werte und Normen untergraben“. Sie hätten „eindeutig festgestellt“, dass die Anwendung einseitiger Zwangsmaßnahmen „das Recht auf Entwicklung beeinträchtigt und die Erreichung jedes einzelnen nachhaltigen Entwicklungsziels verhindert.“ Unter all ihren negativen Auswirkungen, so Douhan weiter, werde besonders das Recht auf Gesundheit beeinträchtigt, insbesondere während der COVID-19-Pandemie, wie sie bei ihren jüngsten Besuchen in Venezuela und anderen Ländern beobachtet habe.

Umfassende Wirtschaftsblockaden sind somit alles andere als zivile gewaltfreie Alternativen zu militärischen Interventionen. Sie sind schon aus humanitären und völkerrechtlichen Gründen genauso abzulehnen wie militärische Gewalt.

Der Wirtschaftskrieg gegen Russland

Wie sieht das nun mit den westlichen Wirtschaftsblockaden gegen Russland aus. Vieles an den vorherigen Kritikpunkten gilt durchaus auf für sie. Sie wurden eigenmächtig verhängt und haben gravierende humanitäre Auswirkungen, nicht nur in Russland, sondern weltweit.

Die westlichen Staaten können sich in diesem Fall zwar evtl. auf Art. 51 UN-Charta berufen, der eine kollektive Selbstverteidigung gegen einen bewaffneten Angriff legitimiert. In dem Maße wie sie zu Engpässen für lebenswichtigen Gütern führen, stellen sie dennoch Menschenrechtsverletzungen und eine kollektive Bestrafung dar.

Auch die Blockade internationaler Zahlungssysteme und die Beschlagnahmung von Konten sind schwerlich mit internationalem Recht in Einklang zu bringen.

Zudem stellt sich die Frage, was ausgerechnet die USA und ihre Verbündeten legitimiert, einem anderen Staat Strafmaßnahmen wegen eines Völkerrechtsbruchs aufzuerlegen, nachdem sie in den letzten Jahren vielfach selbst völkerrechtswidrige Angriffskriege durchgeführt haben.

Und allem Anschein nach gehen die Ziele der in einem beispiellosen Ausmaß verhängten Maßnahmen offensichtlich weit über das Ziel, den Krieg zu stoppen, hinaus.

Fragwürdige Rechtfertigung

Insgesamt haben die USA, die EU-Staaten und einige weitere Verbündete rund 6000 unterschiedliche Zwangsmaßnahmen gegen das ganze Land oder einzelne russische Unternehmen und Personen verhängt.[18] Die ersten wurden schon 2014, nach dem Anschluss der Krim, eingeleitet. Nach dem Einmarsch in der Ukraine wurden sie extrem ausgeweitet. Es sind die bisher umfassendsten Blockademaßnahmen der Geschichte und sie werden immer weiter verschärft.[19]

Sie werden von westlichen Politikern und Medien geradezu als zwangsläufige Reaktion auf die russische Invasion dargestellt und auch von Teilen der Linkspartei unterstützt. Ein derart empörender Krieg verlange eine scharfe Reaktion, daher gäbe es zu solchen Maßnahmen überhaupt keine Alternative. Man könne diesen Völkerrechtsbruch nicht ungestraft hinnehmen und die harten Maßnahmen seien nötig, um „Putin zu stoppen“. Die Forderungen nach vollständigem Boykott russischer Importe wird moralisch mit der Behauptung untermauert, mit jedem Barrel Öl oder Kubikmeter Gas würde man „Putins Krieg finanzieren“.

Der Impuls, einen blutigen Krieg zu stoppen, ist verständlich und vielen erscheinen drastische „Sanktionen“ dabei als probates gewaltfreies Mittel. Sie gehen jedoch von falschen Prämissen aus und ignorieren die Umstände, die zum Krieg führten wie auch die Ziele der westlichen Politik und ihre Konsequenzen.

Natürlich fließt auch in Russland nicht jeder Euro für Öl und Gas in die Kriegskasse. Importeinnahmen dienen auch hier vorwiegend der allgemeinen Versorgung des Landes. Wie überall bekommen in Russland in erster Linie die einfachen Menschen die Engpässe zu spüren, lange vor dem Militär. Dies ist ja einer der Gründe, warum noch nie ein Krieg durch Wirtschaftsblockaden gestoppt werden konnte.

Es stimmt auch nicht, dass jeder Angriff eines Staates auf einen anderen automatisch harte Gegenreaktionen Deutschlands oder der EU nach sich ziehen müsste. Es gibt zahlreiche Beispiele von Kriegen, wo niemand in den europäischen Hauptstädten auch nur auf eine solche Idee kam. Am wenigstens natürlich bei den zum Teil wesentlich verheerenderen Kriegen, die die USA und ihre europäischen Verbündeten selbst in den letzten Jahrzehnten führten, wie die gegen Jugoslawien, Afghanistan, Irak und Libyen.

Bei keinem dieser Kriege hat irgendein westliches Land Öl- und Gasboykotte oder sonstige Embargomaßnamen auch nur erwogen.

„Russland ruinieren“

Auch auf den russischen Einmarsch in die Ukraine hätte die deutsche Regierung durchaus anders reagieren können, auch mit Blick auf die besondere Verantwortung, die Deutschland aufgrund der Verbrechen des deutschen Faschismus gegenüber den Völkern der Sowjetunion hat, d.h. gegenüber der ukrainischen Bevölkerung wie der russischen. Sie hätte sich, statt Waffenlieferungen und Blockademaßnahmen einzuleiten, für einen raschen Waffenstillstand und Verhandlungslösungen einsetzen können und hätte dafür viel Zustimmung und Unterstützung außerhalb Europas gefunden.

Wer die Vorgeschichte und die Ursachen des russischen Angriffs und die vielen Warnungen prominenter westlicher Politiker und Experten nicht beiseiteschiebt und auch nicht das langjährige Drängen der russischen Führung, die Bedrohung, die sie im Vorgehen der USA und NATO sieht, durch Sicherheitsgarantieren zu entschärfen, der weiß wie Verhandlungsansätze aussehen müssten (s. Teil 2 meines Villinger Vortrags zum Ukrainekrieg Wege aus dem Krieg).

Viele Experten, darunter auch Analysten des Pentagons, sahen in der Art des russischen Vorgehens, mit einer beschränkten Anzahl von Truppen, auch das Erzwingen von Verhandlungen als eines der zentralen Ziele des Angriffs.[20]

Tatsächlich war es ja auch recht schnell zu Verhandlungen gekommen, die sich vielversprechend entwickelten. Im März hatten Kiew und Moskau bei den Verhandlungen in Ankara Vorschläge und Forderungen präsentiert, die nicht so weit voneinander entfernt lagen, als dass sie unüberbrückbar schienen. [Moskau hatte konkrete Forderungen nach einer Neutralität der Ukraine, Anerkennung des Anschlusses der Krim und Verhandlungen über den Status des Donbass gestellt und Kiew kam dem mit seinen Vorschlägen schon weit entgegen. (s. Wege aus dem Krieg).]

Im Westen waren aber solche Verhandlungslösungen offensichtlich nicht erwünscht. Insbesondere Washington und London übten offen Druck auf den ukrainischen Präsidenten Selenskij aus, keinerlei Kompromisse einzugehen und verstärkten gleichzeitig ihre militärische Unterstützung. Aber auch die EU drängte stets, wenn aus Kiew Verhandlungsbereitschaft signalisiert wurde, durch Zusage von Waffen im Wert von Hunderten von Millionen Euro auf die Fortsetzung des Krieges.

Offenbar haben nicht nur in den USA die Falken Oberwasser, sondern auch in den anderen NATO-Ländern. Hierzulande sind es vor allem die Grünen, die in diesem Krieg die große Chance sehen, den geopolitischen Rivalen im Osten entscheidend zu schwächen, „Russland zu ruinieren“ wie Außenminister Baerbock das Ziel klar umriss.

Bumerangeffekte

Diesen Ruin wollen USA und EU vor allen durch die Handels- und Finanzblockaden erreichen, oder wie es Frankreichs Wirtschaftsminister Bruno Le Maire ausdrückte, durch einen „totale Wirtschafts- und Finanzkrieg“.

Der Stellvertreterkrieg zwischen den transatlantischen Mächten und Russland wird damit aber nicht nur auf dem Rücken der ukrainischen und russischen Bevölkerung geführt, sondern auf dem der ganzen Welt. Nicht nur Treibstoff und Getreide wurden weltweit knapp, sondern beispielsweise auch Düngemittel. Gleichzeitig explodierten die Preise dafür, wie auch für viele andere lebensnotwendige Güter. Dadurch ist in vielen armen Ländern im globalen Süden die Nahrungsversorgung schon ernsthaft eingebrochen, Hunger breitet sich noch weiter aus. UN-Generalsekretär António Guterres warnte schon bald, dass der Krieg und die Sanktionen eine noch nie dagewesene Welle von Hunger und Elend auszulösen drohen. Sie sind dabei, die gesamte Weltwirtschaft zu destabilisieren

Politik und Mainstreammedien tun jedoch alles, um die Tatsache zu verschleiern, dass die Hauptursache dafür, die Blockademaßnahmen des Westens gegen Russland sind. Geradezu krampfhaft versuchen sie uns weiszumachen, dass allein der Ukrainekrieg und Moskau für die Engpässe und Preisexplosionen bei Öl und Gas verantwortlich sei.

Dabei hat, was die Situation in Deutschland betrifft, Kanzler Scholz selbst in einem Gastbeitrag für die FAZ im Juli damit geprahlt, d.h. noch bevor der Gaszufluss durch Nordstream 1 endgültig versiegte, dass es seiner Regierung gelungen sei, den Anteil russischen Gases von 55 auf 30 Prozent fast zu halbieren.[21] Und EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen berichtete stolz, die gesamte EU habe den Anteil russischen Pipelinegas von über 40 auf neun Prozent gesenkt.[22]

Gerne wird dem Vorwurf, die Politik der USA und die EU sei verantwortlich für weltweite Versorgungsengpässe, entgegenhalten, dass beispielsweise Düngemittel und Getreide gar nicht unter die Boykottmaßnahmen fallen würde. Dabei wird jedoch verschwiegen, dass das Transportwesen wie auch Finanztransfers betroffen sind, wodurch Lieferungen und Bezahlung erschwert werden und russische Lieferanten stets Gefahr laufen, dass ihre Erlöse während der Überweisungen auf irgendwelchen Zwischenstationen beschlagnahmt werden.[23]

Die bisherige Entwicklung zeigt aber, dass ein so mächtiges Land mit so großen Ressourcen offensichtlich nicht effektiv blockiert werden oder gar in die Knie gezwungen werden kann. Insbesondere wenn nur ein kleiner Teil der Welt dies unterstützt.

Die meisten Staaten außerhalb Europas und Nordamerikas weigern sich, sich am Russland-Boykott zu beteiligen und nutzen gerne die Rabatte von bis zu 30 Prozent, die Moskau gewährt, für eine Ausweitung ihrer Öl- und Gas-Importe aus Russland. Nicht nur China importiert Rekordmengen, auch Indien hat z. B. seine Ölimporte aus Russland vervielfacht. Auch andernorts sehen wir nun einen sich im Rekordtempo vollziehenden Umbruch im Welthandel.

Obwohl die Exportmengen sanken, erzielt Russland aufgrund der massiv gestiegenen Preise für Öl und Gas insgesamt höhere Einnahmen als zuvor. Insgesamt erwartet das russische Wirtschaftsministerium für 2022 Energieexporteinahmen in Höhe von 338 Mrd. Dollar, fast 100 Mrd. mehr als letztes Jahr.[24]

Natürlich setzen die Blockaden der russischen Wirtschaft durchaus zu, indem sie z.B. die Importe von Ersatzteilen, Hightech-Komponenten und anderer wichtiger Güter massiv beeinträchtigen und verteuern. Die Engpässe können auch mit der Zeit noch erheblich zunehmen. Die russische Führung hatte sich aber offenbar gut vorbereitet und konnte zumindest bisher die negativen Auswirkungen auf Wirtschaft, Währung, Versorgung in engen Grenzen halten. Neue Lieferwege entwickeln sich, westliche Waren werden durch asiatische ersetzt, auch die Eigenproduktion wurde seit 2014 angekurbelt. Wirtschaftliche Schwierigkeiten, die Moskau zum Rückzug aus der Ukraine zwingen oder das Land destabilisieren könnten, sind nicht in Sicht.

Auf der anderen Seite leidet die Wirtschaft der EU-Staaten immer stärker selbst unter ihren eigenen Boykotten und den russischen Gegenmaßnahmen. Was für schweres Geschütz gegen die russische Wirtschaft gehalten worden war, feuerte mit Wucht zurück und gefährdet ihre eigene wirtschaftliche Stabilität. Für viele Experten wie Michael Lüders oder Michael Hudson sind Deutschland und seine EU-Partner dabei, wenn sie fortfahren wirtschaftlichen Selbstmord zu begehen.[25]

Trotz ihrer massiven Abhängigkeit vom russischen Gas und Öl haben die EU-Staaten in wahnsinnigem Tempo den Import über Pipelines drastisch reduziert, ohne auch nur über eine halbwegs zuverlässige und bezahlbare Ersatzlösung zu verfügen. Wie leicht vorherzusehen führte dies zu Engpässen und zu drastischen Preissprüngen.

Es stimmt natürlich, dass die Preise auch schon vorher gestiegen waren, als Ende 2021 die Nachfrage mit dem Wiederanlaufen der Wirtschaft in der Welt, nach dem Ende von Lockdowns und anderen Corona-Maßnahmen, wieder zunahm. Mit dem Ausstieg aus russischen Lieferungen zogen die Preise aber nochmal gewaltig an. Lagen die Großhandelspreise für Erdgas Anfang Februar bei ca. 80 Euro pro MWh. so stieg er im Sommer zeitweise auf über 300 Euro / MWh, d.h. auf das Vierfache.

Die Preissprünge sind selbstverständlich nicht nur eine Folge der Verknappung, sondern auch der Liberalisierung der Energiemärkte. Preise werden seither nicht mehr über die öffentliche Hand festgelegt, sondern über Strom- und Gasbörsen bestimmt. Statt langfristiger Vereinbarungen werden überwiegend nur noch kurzfristige Lieferverträge auf den Spotmärkten abgeschlossen, wo die Entwicklung natürlich die Spekulation nach Wegfall des günstigen Pipelinegases keine Grenzen mehr sieht.

Auf dem Weg in den wirtschaftlichen Selbstmord?

Da Deutschland sich zu einem sehr hohen Anteil durch russisches Gas aus Pipelines versorgte, sah sich die deutsche Regierung auch besonders gezwungen, fieberhaft nach Ersatz zu suchen. Wie wenig die Embargopolitik mit Moral und Werten zu tun hat, verdeutlichte dabei sinnbildlich Robert Habecks Bückling vor dem Emir von Katar. Wenn die EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen und Außenministerin Baerbock davon reden, dass wir nun die Welt von morgen zusammen mit Partnern gestalten, die unsere Werte teilen und uns dafür Musterdemokratien wie Saudi Arabien, Katar, Aserbaidschan und Ägypten als bevorzugte Energiepartner der Zukunft präsentieren, so spricht dies ebenfalls Bände.[26]

Größere Zusagen erhielt Habeck auf seinen Betteltouren nicht und bis nennenswerte Mengen von alternativen Lieferanten geliefert werden können, werden Jahre vergehen. Katar sicherte nun zwar zwei Millionen Tonnen Flüssiggas im Jahr zu. Dies sind aber gerade mal 3 Prozent des bisherigen deutschen Verbrauchs und rund 5 Prozent der Menge, die Nord Stream 1 transportierte. Geliefert wird erst ab 2026 ‒ zu wenig und zu spät, um aktuell russisches Gas zu ersetzen, aber ‒ mit einer Vertragslaufzeit von 15 Jahren ‒ zu lange, um vereinbar mit den Ausstiegsplänen aus dem fossilen Energieträger im Rahmen der verkündeten Energiewende zu sein.[27]

Faktisch können nur die USA in näherer Zukunft einen größeren Teil des russischen Gases ersetzen, Förderkapazitäten und Infrastruktur müssen aber auch dort erst noch massiv ausgebaut werden und auch bei uns werden Hunderte zusätzliche Tanker für den Transport benötigt, sowie eine ausreichende Zahl von Terminals zur Einspeisung des Flüssigerdgasgas (auch LNG für „liquefied natural gas“ genannt) ins deutsche Netz.

Wenn die anvisierten Mengen realisiert werden ‒ wobei hier auch die anderen EU-Staaten Schlange stehen ‒ verlagert sich die Abhängigkeit Deutschlands, wie der gesamten EU beim Erdgasimport in Zukunft nur von Russland vollständig auf die USA ‒ statt günstigem Gas per Pipeline jedoch ein mehrfach so teures Flüssiggas, das durch umweltschädliches Fracking gewonnen wird und per Schiffe transportiert werden muss. 

Im Bestreben, sich wirtschaftlich völlig von Russland abzukoppeln, beendet die deutsche Regierung dabei eine Energiepartnerschaft, die immerhin ein halbes Jahrhundert Bestand hatte, auch in sowjetischen Zeiten, ungeachtet der heftigen Konflikte während des Kalten Krieges. [Die ehem. Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer wies einem Artikel kürzlich darauf hin, dass damals ungeachtet all dieser Streitpunkte der Grundstein für die Entspannungspolitik gelegt wurde und bezeichnete die aktuelle Politik, die maßgeblich von ihrer Partei, den Grünen, vorangetrieben wird, als „eine Wirtschaftspolitik der verbrannten Erde“.[28]]

Die Bundesregierung hatte im Frühjahr geplant, den Zufluss russischen Gas nur soweit zu drosseln, dass die Versorgung nicht gefährdet würde. Als die Liefermenge dann durch Wartungsarbeiten an Nordstream 1 drastisch unter diese Menge sank, kam sie in die Bredouille.

Sie musste die Alarmstufe im Notfallplan Gas ausrufen und die Bevölkerung auf Entbehrungen und eine Talfahrt der Wirtschaft einstimmen.

Die arabischen Scheichs, die nun noch stärker bedrängt wurden, tippten sich, wie man aus Medienberichten herauslesen kann, nur an den Kopf und fragten, warum in aller Welt sich die Deutschen so einen Schwachsinn antun, statt sich das Gas einfach über die funktionsfähigen Pipelines viel billiger frei Haus liefern zu lassen. Im Sommer stand die neue Pipeline Nordstream 2 ja noch betriebsbereit zur Verfügung und hätte Nordstream 1 bis zu deren Instandsetzung ersetzen können.

Die Anschläge auf die Nordstream Pipelines in der Ostsee zielten offensichtlich darauf, die Entscheidung über ihre Nutzung nicht den Deutschen zu überlassen, sondern diesen Lieferweg komplett zu kappen. Der Angriff richtete sich daher sowohl gegen Russland wie auch gegen Deutschland. Ausgeführt wurde er allem Anschein nach von den eigenen Verbündeten. Das Ausbleiben jeglicher Gegenreaktion auf diesen Schlag unter die Gürtellinie ist erschreckend. Offensichtlich will die deutsche Regierung ‒ aus Abhängigkeit oder aus dem Willen die Kriegsphalanx gegen Russland nicht zu schwächen ‒ den Terrorakt unter den Teppich kehren. Um nicht in Zugzwang zu kommen, hält sie, genauso wie die Dänen und Schweden, alle Erkenntnisse unter Verschluss. Die Medien hatten ja sogar den Russen unterstellt, ihre eigenen Pipelines gesprengt zu haben, und dabei geradezu einen Wettkampf um die krudeste Verschwörungstheorie geführt. [Wenn bei den Untersuchungen nur ein winziges Indiz aufgetaucht wäre, das auf Moskau zeigt, so wäre es garantiert schon lange bekannt.]

Eine Röhre von Nordstream 2 ist nach Angaben des Betreibers Gazprom funktionsfähig geblieben, sodass darüber durchaus rasch zusätzliches Erdgas strömen könnte ‒ und vor allem auch viel billigeres.

Denn das Wirtschaftsministerium hat es zwar geschafft, die Gasspeicher durch alternative Quellen zu füllen, aber zu horrenden Preisen sowie auf Kosten vieler ärmeren Länder der Welt, zu denen keine Pipelines führen. Auf Anweisung von Robert Habecks Ministerium kauften die deutschen Einkäufer das Gas an den Energiebörsen zu jedem Preis auf und trieben dadurch den Preis auf Spitzenhöhen, im August schließlich auf die bereits erwähnten Großhandelspreis von über 300 Euro pro MWh ‒ doppelt so viel wie im Juli und gut das Fünffache der Preise im Sommer zuvor.[29]

Indem Deutschland und andere EU-Staaten, die preislich noch mithalten konnten, mit überteuerten Importen den Weltmarkt leersaugten, blieben ärmere Länder auf dem Trockenen. Die horrenden Preise verführten Händler sogar dazu, trotz damit verbundener Strafzahlungen, langfristige Lieferverträge zu brechen. Während die EU-Staaten ihre LNG-Importe im ersten Halbjahr nahezu verdoppelten, brachen sie z.B. in Pakistan um 15% ein, so dass das Land die Versorgung mit Gas und auch Strom stark rationieren musste und die Wirtschaftsleistung durch Produktionsunterbrechungen sank. In noch ärmeren Ländern, wie dem benachbarten Bangladesh und vielen afrikanischen Staaten war der Einbruch noch wesentlich schlimmer. [„Die europäische Gaskrise“ sauge „die Welt bis aufs Blut aus“ so ein britischer Energieberater, genauer das rücksichtlose Streben, russisches Erdgas zu verdrängen.[30]]

Dennoch ist es fraglich, ob Liefermengen und Gasspeicher in den kommenden Monaten ausreichen werden. Und selbst wenn, werden die exorbitanten Preise dafür sorgen, dass es im Winter für viele kalt in der Wohnung werden wird und erdgashungrige Unternehmen und Industriezweige ihre Produktion runterfahren müssen. [ „Quer durch die Branchen erreichen uns täglich Hilferufe von Unternehmen, die für das kommende Jahr keinen Energieversorgungsvertrag mehr bekommen“, berichtet der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertag, Peter Adrian, und warnt vor Produktionsstopps.[31] ]

Ohne einen drastischen Kurswechsel der Regierung ‒ weg von der Boykottpolitik ‒ wird hierzulande das Gas auch dauerhaft viel teuer und knapper bleiben und damit das Erfolgsrezept der exportorientierten deutschen Wirtschaft, das zum guten Teil auf dem günstigen Gas aus Russland basiert, zusammenbrechen.

Die führenden deutschen Wirtschaftsinstitute prognostizieren in ihrem Herbstgutachten bei einer Gasmangellage durch einen kalten Winter eine Rezession von knapp 8% fürs nächste Jahr. Doch ohne Umsteuern wird sich die Wirtschaftskrise sogar noch wesentlich stärker ausweiten.

[Bereits jetzt haben zahlreiche Unternehmen zu kämpfen. Große Betriebe stellen unrentable Produktionszweige still, kleinere wie Bäckereien, und mittelständische, wie Keramikhersteller oder metal­lurgische Betriebe, die alle mit der Vervielfachung ihrer Energiekosten konfrontiert sind, stehen vor dem Ruin. Bei vielen hat bereits die Corona-Politik die letzten Reserven aufgebraucht.] Fast jedes zehnte mittelständische Industrieunternehmen hat einer Umfrage zufolge, seine Produktion in Deutschland schon wegen hoher Preise unterbrochen oder gedrosselt. 90 Prozent gaben an, dass die gestiegenen Energie- und Rohstoffpreise eine existenzielle oder starke Herausforderung für sie seien. Jede fünfte der befragten Firmen denkt wegen der Preissteigerungen über eine Verlagerung von Teilen oder des gesamten Unternehmens ins Ausland nach, vor allem in die USA, wo die Energie nur einen Bruchteil kostet.[32] Experten reden schon von einer drohenden „Deindustrialisierung“. „Der Schritt von der weltweit führenden Industrienation zum Industriemuseum war noch nie so klein“, warnte kürzlich auch der Verband der Chemischen Industrie.[33]

Durch den forcierten Umstieg von Pipelinegas auf Flüssiggas wird Gas nicht nur um ein Vielfaches teurer, sondern auch klimaschädlicher. Viele Klimaschützer sehen in einem vollständigen Boykott russischen Gas die Chance, dadurch den CO2-Ausstoß schneller reduzieren zu können. Doch auch wenn der Ausbau erneuerbarer Energiequellen sich jetzt etwas beschleunigen mag, wird dies durch das Ausweichen auf schädlichere Energien konterkariert.

So entsteht bei Produktion und Transport von LNG aus den USA beispielsweise ein doppelt so großer CO2-Fußabdruck wie beim konventionellen russischen Gas.[34] Noch übler wird die Bilanz, wenn statt Gas nun wieder mehr Kohle verfeuert werden soll. Die Kriegspolitik der EU gegen Russland belastet daher nicht nur ihre Bürger und ihre Wirtschaft, sondern konterkariert die Bemühungen, den menschengemachten Klimawandel zu bremsen.

Warum tun sich Deutschland und die EU das an?

Für die USA sind Öl- und Gasembargos gegen Russland natürlich kein großes Problem, da sie kaum davon betroffen sind. US-amerikanische Energiekonzerne können sich über rasant gestiegene Einnahmen aus dem Export von Frackinggas freuen.

Wenn Deutschland und die übrigen EU-Staaten zukünftig viel mehr für ihre Energie und für Erdgas als wichtigen Grundstoff bezahlen müssen, wird dies natürlich massive negative Auswirkungen auf ihre Wettbewerbsfähigkeit haben ‒ was in den USA sicherlich nicht ungern gesehen wird, ein Kollateral-Nutzen sozusagen.

Doch warum hilft unsere Regierung und die anderen EU-Staaten den USA “to make America great again”?

Ein derart umfassender Boykott gegen ihre wirtschaftlichen Interessen war von den meisten EU-Staaten vermutlich nicht gewollt und wird von einigen auch teilweise hintertrieben. Sie sahen sich aber genötigt, sich den Forderungen Washingtons zu beugen ‒ offenbar schätzen sie die wirtschaftlichen und politischen Kosten, sich der Vormacht zu widersetzen, höher ein, als die des Wirtschaftskrieges.

Und ein guter Teil der Herrschenden hier teilt selbstverständlich auch das Ziel, die lukrative westliche Dominanz in der Welt so lange wie möglich aufrecht zu erhalten und dafür alles zu tun, um Russland niederzuringen und damit gleichzeitig auch China zu schwächen.

In Deutschland kommt wohl noch ein anderer Aspekt hinzu. Berlin hat ja die Empörung über Russlands Krieg genutzt, gigantische Rüstungsvorhaben auf den Weg zu bringen, um Deutschlands Großmachtrolle auszubauen. Deutschland werde, so verkündete Olaf Scholz bekanntlich, „in Europa bald über die größte konventionelle Armee im Rahmen der Nato verfügen“. Und SPD-Chef Klingbeil tönte, dass nach knapp 80 Jahren Zurückhaltung, Deutschland eine neue Rolle im internationalen Koordinatensystem einnehmen und „Führungsmacht“ werden müsse. Eine grundlegende Maxime US-amerikanischer Geostrategie ist aber bekanntlich, zu verhindern, dass die US-Vorherrschaft über Europa durch ein starkes Deutschland gefährdet wird, das sich auf Russland stützt. Washington kann deutsches Großmachtstreben daher nur akzeptieren, wenn Deutschland seine Verbindungen zu Russland glaubhaft dauerhaft kappt. Die wirtschaftliche Basis für eine Führungsmachtrolle wird dadurch jedoch untergraben, die wirtschaftliche Abhängigkeit von den USA, insbesondere bei Ergdas wächst enorm.

Neue Blockbildung

Der russische Krieg und mehr noch die Reaktion des Westens darauf, hat bekanntlich auch erhebliche Auswirkungen außerhalb Europas, bringt erhebliche Bewegung in die internationalen Beziehungen. Manche sprechen von der größten Neuaufteilung der Welt seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Darüber wurde heute ja schon ausführlich gesprochen.

Wie schon angedeutet, ist die vom Westen angestrebte außenpolitische Isolierung Russlands völlig gescheitert. Eine klare Mehrheit aller Staaten verurteilte zwar den russischen Einmarsch in der UN-Vollversammlung, sieht diesen Krieg jedoch nur als einen weiteren neben den vielen an, die vom Westen oder mit dessen Unterstützung geführt wurden und werden. In seinem aggressiven Vorgehen gegen Russland ist es der Westen, der isoliert ist. Außer den USA, Kanada und den 27 EU-Staaten beteiligen sich nur noch acht weitere Länder an den Wirtschaftsblockaden.[35]

Bedeutend ist, dass auch Staaten, die eigentlich eher als Verbündete gelten, wie Indien, die Golfstaaten Südafrika oder Mexiko, den USA und den Westeuropäern die Gefolgschaft verweigern. Diese Länder kritisieren mit Verweis auf die US- und NATO-Kriege die westliche Doppelmoral und fordern ein Ende der Handels- und Finanzblockaden, unter denen sie stark leiden ohne gefragt worden zu sein.

Zum Bumerangeffekt des Wirtschaftskriegs gehört auch, dass der eklatante Missbrauch des internationalen Finanzsystems dafür das Vertrauen auf die Verlässlichkeit des bestehenden, US-dominierten Systems gründlich erschüttert hat. Nichtwestliche Länder sehen auch für sich die Gefahr im Fall von Konflikten mit den USA davon betroffen zu sein, und haben nun großes Interesse ihre Abhängigkeit davon und vom Dollar zu verringern – naheliegender Weise gemeinsam mit China und Russland.

Sie führen daher ihre Zusammenarbeit mit Russland nicht nur fort, sondern intensivieren sie sogar noch, deutlich sichtbar im Bestreben einer Reihe weiterer Staaten, sich der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit oder der Vereinigung der BRICS-Staaten anzuschließen ‒ beides Zusammenschlüsse in denen Russland wie auch China führend beteiligt sind.

Es ist daher keineswegs ausgemacht, dass die USA am Ende tatsächlich zu den Gewinnern zählen. Die Realisten im US-Establishment sehen mit Grausen, dass der Wirtschaftskrieg gegen Russland aktuell vor allem China stärkt. Aus dem US-Establishment kommen daher immer mehr namhafte Stimmen, die sich dafür aussprechen, den Krieg mit Russland nicht zur forcieren und zu verlängern, sondern eine politische Lösung anzustreben, bei der Kompromisse akzeptiert werden, zuletzt auch der Chef des US-Generalstabs Mark Milley.

Fazit

Wir können in der Einschätzung des Krieges in der Ukraine geteilter Meinung sein. Jeder nüchterne Betrachter müsste aber erkennen, dass die Wirtschaftsblockaden den UkrainerInnen nicht helfen. Sie werden den Krieg nicht stoppen, richten aber schwere Schäden an.

Angesichts der enormen wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen, die uns hier drohen und mehr noch in den armen Ländern des globalen Südens, müssen wir uns entschieden für deren Ende einsetzen. So wichtig die Forderung bei den Sozialprotesten nach sozialer Abfederung der Preissteigerungen ist ‒ die riesigen Entlastungspakete, die Preisdeckel etc. werden uns nicht retten. Unabhängig davon, dass auch sie in erster Linie der Wirtschaft zu Gute kommen, selbst Konzernen, die Rekordgewinne einfuhren und nächstes Jahr Dividenden in Rekordhöhe von 50 Mrd. Euro ausschütten, werden sie die finanzielle Belastung nur in die kommenden Jahre verlagern. Da die Rekordgewinne nahezu unangetastet bleiben und auch sonst die Vermögenden nicht stärker zur Kasse gebeten werden, wird der Rest der Bevölkerung die Zeche zahlen müssen, durch höhere Steuern oder Kürzungen im Bereich von Sozialem, Gesundheit oder Klima. Daher müssen die Ursachen beseitigt werden, das sind vor allem die Blockaden aber auch die liberalisierte und privatisierte Energieversorgung. Daher muss auch deren Vergesellschaftung auf die Agenda.

Unabhängig davon droht der Wirtschaftskrieg die Beziehungen zwischen dem westlichen Europa und Russland dauerhaft zu kappen. Wirtschaftliche Verflechtungen zwischen Staaten haben aber im Grunde eine friedenserhaltende Wirkung. Im Kalten Krieg waren die Wirtschaftsbeziehungen Westeuropas zur Sowjetunion faktisch die materielle Basis für die Entwicklung der friedlichen Koexistenz. Eine neue Mauer durch völlige Abkopplung Russlands wäre daher eine für die zukünftige Stabilität Europas gefährliche Entwicklung.

Für die Bewältigung der gewaltigen weltweiten Probleme der Menschheit wie Hunger, Gesundheit, Klima und Umwelt, brauchen wir eine globale Zusammenarbeit, und dies auch mit Russland und den vom Westen ebenfalls zum Gegner erklärten China.

Ein Kurswechsel in der deutschen Politik ist daher auch in dieser Beziehung dringend nötig.


[1] Gerhard Hafner, Völkerrechtliche Grenzen und Wirksamkeit von Sanktionen gegen Völkerrechtssubjekte, Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, ZaöRV 76 (2016), 391-413

[2] .K. Cashman and C. Kharrazian (CEPR), US sanctions are designed to kill, Jacobin, 1.9.2019

[3] Prof. Marc Bossuyt: 0,5 Mio. bis 1.5 Mio, Nafeez Ahmed, „nach UN-Angaben mehr als 1,7 Millionen“

[4] Mark Weisbrot u. Jeffrey Sachs, Economic Sanctions as Collective Punishment: The Case of Venezuela, CEPR, 25.4.2019

[5] U.S. Sanctions Are Killing Cancer Patients in Iran, Foreign Policy, 14.8.2019

[6] Iran: Völkerrechtswidrige einseitige Sanktionen schnüren den Menschen die Luft zum Atmen ab, Interview mit der UN-Sonderberichterstatterin Alena Douhan über ihre zehntägige Reise in den Iran, Zeit-Fragen, 20. 9. 2022

[7] J. Guilliard, Syrien: „Stiller Tod durch Sanktionen“, Ossietzky 13/2019)

[8] UN expert calls for lifting of long-lasting unilateral sanctions ‘suffocating’ Syrian people, OHCHR, 10.11.2022

[9] Have US-imposed sanctions ever worked? Interview mit Gary Hufbauer, TRT World, 24.9.2018

[10] Marc Bossuyt ,The Adverse consequences of economic sanctions on the enjoyment of human rights, Economic and Social Council, E/CN.4/Sub.2/2000/33, 21.6.2000

[11] UN-Sonderberichterstatter: Die Sanktionen gegen Venezuela töten viele Menschen, RT, 30.01.2019

[12] https://friedensgutachten.de/

[13] Simon Jenkins, The rouble is soaring and Putin is stronger than ever – our sanctions have backfired, Energy prices are rocketing, inflation is soaring and millions are being starved of grain. Guardian, 29.7.2022

[14] Nicholas Mulder, A Leftist Foreign Policy Should Reject Economic Sanctions, The Nation, 20.11.2018

[15] Überblick: About unilateral coercive measures, OHCHR, vollständige Liste aller diesbzgl. Resolutionen der UN Vollversammlung des UN-Menschenrechtsrats: Special Rapporteur on unilateral coercive measures — Resolutions and decisions,  OHCHR

[16] UN GA Resolution: Economic measures as a means of political and economic coercion against developing countries 1991, A-RES-46-210, 20.12.1991

[17] Interview: Most unilateral sanctions violate international law, says UN expert, Xinhua, 13.07.2022

[18] Patrick Lawrence, Der neue Eiserne Vorhang, Consortium News, 16.5.2022

[19] Eine Übersicht über die EU-Maßnahmen findet man u.a. bei den Wirtschaftskammern Österreichs (WKO )

[20] Putin’s Bombers Could Devastate Ukraine But He’s Holding Back. Here’s Why, Newsweek, 22.3.2022, s.a. Das Pentagon wirft Wahrheitsbomben ab, um den Krieg mit Russland abzuwenden, NDS, 25. 3.2022

[21] Die EU muss zu einem geopolitischen Akteur werden, Gastbeitrag von Bundeskanzler Olaf Scholz, FAZ, 17.07.2022

[22] „EU hat russische Gasimporte von 40 auf neun Prozent gesenkt“, ener|gate messenger, 26.09.2022

[23] Korn oder Krieg – Moskau offenbar bereit, Korridor für Export ukrainischen Getreides zu öffnen, junge Welt,

30.05.2022

[24] Patrick Cockburn, How the West’s Sanctions on Russia Boomeranged, CounterPunch, 10.10.2022

[25] Michael Lüders, Der völlige Verzicht auf Erdgas und Öl aus Russland grenzt an wirtschaftlichen Selbstmord, der Freitag, 15.06.2022, Wie die USA ihre globale Dominanz sichern wollen – US-Ökonom Michael Hudson im Exklusiv-Interview, ViER.1.8.2022

[26] Energiekrieg – Die Sieger stehen schon festvon Mathias Reymond und Pierre Rimbert, LMDipl, 09.06.2022

[27] Erdgas und Panzer ‒ Qatar sagt Deutschland Flüssiggaslieferungen für 15 Jahre zu , gfp,30 Nov 2022

[28] Antje Vollmer ,Zweifel an der Sanktionspolitik gegen Russland: Wo sind die Realos geblieben? Die Verluste sind unschätzbar und haben mindestens zehn Jahre Chaos und Wirtschaftskrisen zur Folge. Warum tut der Westen sich das an?, Berliner Zeitung, 14.7.2022

[29] Gaspreisexplosion – nun findet auch der SPIEGEL heraus, was Sie bereits vor mehr als zwei Monaten auf den NachDenkSeiten lesen konnten, Jens Berger, 18. Oktober 2022

[30] Jörg Kronauer, Weltweiter Schaden ‒ Über die Folgen des Sanktionsregimes, das der Westen über Russland verhängt hat, junge Welt,  23.11.2022

[31] Energie-Krise: Ausmaß des Schadens für Wohlstand und Arbeitsplätze zeichnet sich ab, Deutsche Wirtschaftsnachrichten, 25.10.2022

[32] Institute erwarten Einbruch der Wirtschaft um bis zu 8 Prozent, Deutsche Wirtschaftsnachrichten, 29.09.2022

[33] Deutsche Chemieindustrie warnt vor Abwanderung von Produktion ins Ausland, ntv, 20.09.2022,

[34] Mathias Reymond und Pierre Rimbert, Energiekrieg – Die Sieger stehen schon fest, LMDipl, 09.06.2022

[35] Jörg Goldberg, Globalisierung als Wirtschaftskrieg – Die Sanktionen gegen Russland befördern die Fragmentierung der Weltökonomie, junge Welt, 05.07.2022

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