- Prof. Dr. Heyo Kroemer, Vorstandsvorsitzender Charité – Universitätsmedizin Berlin, Campus Mitte Charitéplatz 110117 Berlin
- Dr. Magnus Rüde, Geschäftsstelle des Vorstands, Charité – Universitätsmedizin Berlin, Campus Mitte, Charitéplatz 1, 10117 Berlin
- Prof. Dr. Axel Pries, Dekan Charité – Universitätsmedizin Berlin, Charitéplatz 1 10117 Berlin
- Prof. Dr. Michael Tsokos, Direktor des Instituts für Rechtsmedizin, Charité – Universitätsmedizin Berlin, Charitéplatz 1, 10117 Berlin
- Holger Matthiessen, Präsident des Landgerichts Berlin, Turmstraße 91, 10559 Berlin-Moabit
- Christian Steiof, Direktor des Landeskriminalamtes Berlin, Tempelhofer Damm 12, 12101 Berlin
- Dr. Dirk Behrendt, Senator für Justiz, Verbraucherschutz und Antidiskriminierung, Salzburger Str. 21-25, 10825 Berlin
- Steffen Krach, Staatssekretär für Wissenschaft und Forschung, Warschauer Str. 41/42, 10243 Berlin
- Maja Smoltczyk, Berliner Beauftragte für Datenschutz und Informationsfreiheit, Friedrichstr. 219, 10969 Berlin
- Mitglieder des Senatsausschusses für Inneres, Sicherheit und Ordnung, Abgeordnetenhaus von Berlin, Niederkirchnerstr. 5, 10111 Berlin
- Mitglieder des Senatsausschusses für Verfassungs- und Rechtsangelegenheiten, Geschäftsordnung, Verbraucherschutz, Antidiskriminierung, Abgeordnetenhaus von Berlin, Niederkirchnerstr. 5, 10117 Berlin
- Mitglieder des Senatsausschusses für Wissenschaft und Forschung, Abgeordnetenhaus von Berlin, Niederkirchnerstr. 5, 10117 Berlin
Absender: WIE-DNA (Wissenschaftliche Initiative Erweiterte DNA-Analysen, Freiburg)
Sehr geehrte Damen und Herren,
mit großer Bestürzung haben wir die Pläne der Charité zur Kenntnis genommen, aus Kostengründen ihr Labor für Forensische Genetik zu schließen. Die dort tätigen ForensikerInnen leisten mit ihrer wissenschaftlichen Expertise für die Berliner Polizei unverzichtbare Beiträge in zahlreichen Ermittlungsverfahren; sie sind zudem international anerkannte ForscherInnen und gewährleisten die anspruchsvolle akademische Ausbildung junger Forensischer GenetikerInnen. Bei ihnen ist auch die sogenannte YHRD angesiedelt, eine weltweit einzigartige DNA-Referenzdatenbank, die dort in den vergangenen 20 Jahren mit beispiellosem wissenschaftlichen Einsatz aufbaut wurde.
Als interdisziplinäre Wissenschaftsinitiative WIE-DNA, die sich für einen verantwortungsvollen Einsatz Erweiterter DNA-Analyseverfahren und forensischer DNA-Datenbanken einsetzt, stehen wir seit 2016 in einem kritisch-konstruktiven Austausch mit VertreterInnen der Forensischen Genetik, darunter auch den Berliner KollegInnen.[1] Ungeachtet aller inhaltlichen Differenzen haben wir seither immer wieder darauf hingewiesen, dass es für den verantwortungsvollen Umgang mit diesen neuen Verfahren und den damit verbundenen Datenbanken unerlässlich ist, die Forensische Genetik an den Universitäten zu stärken. Allerdings ist deren Finanzierung, anders als in manch anderem EU-Land, an vielen Standorten von den Aufträgen der Ermittlungsbehörden abhängig. Diese Aufträge werden zunehmend an kostengünstigere Firmen vergeben. Die geplante Abwicklung des Charité-Labors steht daher exemplarisch für eine grundsätzliche Problematik, auf die wir schon 2018 anlässlich der Novelle des bayerischen Polizeiaufgabengesetzes aufmerksam gemacht haben[2] und die zuletzt in mehreren Stellungnahmen und Medienbeiträgen zur Schließung des Labors betont worden ist.[3]
Wenn die universitäre Forensische Genetik von der kriminalistischen Fallarbeit ausgeschlossen wird, ist nicht nur die akademische Ausbildung gefährdet, sondern auch die Forschung und vor allem die Qualität der Ermittlungsarbeit. Denn die Ermittlungsbehörden sind für die Qualitätssicherung ihrer Arbeit auf akademische Expertise angewiesen. Hierfür bedarf es einer kontinuierlichen Zusammenarbeit, insbesondere bei komplexeren Fällen. Dabei darf das Fortbestehen der universitären Forensischen Genetik aber nicht von der Vergabe von großen Aufträgen mit wenig komplexen, routinehaften Analyse-Aufgaben abhängig sein, da sie in diesem Bereich, was Kosten/Preise betrifft, nur schwerlich mit privaten Anbietern konkurrieren kann. Eine solche Konkurrenz ist auch nicht sinnvoll, da die Begutachtung von komplizierten Spuren aus schwerwiegenden Kriminalfällen nicht wie in kommerziellen Laboren einer Effizienz- und Kostenlogik unterliegen sollte. Man darf die Forensische Genetik nicht als konkurrenzunfähiger Service-Dienstleister mißverstehen: Sie muss als eigenständige akademische Disziplin anerkannt und, wie alle akademische Disziplinen, aus Mitteln der Wissenschaftsministerien finanziert werden. Nur dann kann sie ihren anspruchsvollen Aufgaben im Ermittlungswesen, in der Forschung und der akademischen Lehre sowie in der Reflexion der politischen und gesellschaftlichen Auswirkungen ihrer Arbeit voll gerecht werden.
Zu diesen anspruchsvollen Aufgaben gehört auch der Betrieb und die Weiterentwicklung der Y Chromosome Haplotype Reference Database (YHRD). Sie wird von kriminalpolizeilichen Behörden aus aller Welt verwendet und stellt ein wichtiges Werkzeug dar, auf dessen Funktionalität weitere forensische DNA-Verfahren beruhen. Ergebnisse aus der YHRD sind weltweit für Gerichtsverfahren und in der Forschung relevant. Da nach der Schließung des Labors die Zukunft der Datenbank ungewiss sein wird, befürchten wir, dass diese wichtige Datenbank womöglich ihrem offenen akademischen Kontext entzogen wird und ethische sowie soziale Verantwortlichkeiten dadurch viel weniger wahrgenommen werden können.
Wie wichtig der akademische Kontext für die forschungs- und nutzungsethische Qualität von Datenbanken ist, zeigt die ethische und methodische Kritik, die die YHRD in letzter Zeit auf sich gezogen hat.[5] Die aufgeworfenen Fragen sind besonders relevant für vulnerable Gruppen und Angehörige von Minderheiten, zum Beispiel für Uiguren und Roma/Sinti. Bisher sind nicht genügend Bemühungen unternommen worden, um die YHRD mit aktuellen ethischen Standards der internationalen humangenetischen Forschungsgemeinschaft in Einklang zu bringen. Dies sollte jedoch eine Priorität für alle akademischen Akteure und Institutionen sein, die für die YHRD verantwortlich oder an ihr beteiligt sind. Verliert die YHRD ihre akademische Basis, ist zu erwarten, dass diese wissenschaftlichen und ethischen Schwachstellen der Datenbank kaum mehr durch akademische Selbstkontrollmechanismen verbessert werden können.[6]
Diese Problematik betrifft nicht allein das Berliner Labor. Mit den forschungs- und nutzungs-ethischen Herausforderungen müssen sich alle großen DNA-Datenbanken permanent auseinandersetzen. Deren Regelungen für Datenerhebung, Datenschutz und Informed Consent gerade im Umgang mit Daten vulnerabler Populationen müssen daher ständig nachgebessert werden. HumangenetikerInnen können, bei aller Vorsicht und Sensibilität, mit der sie beim Aufbau internationaler DNA-Datenbanken zu Werke gehen, nicht alle Problematiken bezüglich Datenschutz und Forschungsethik vorhersehen und im Blick behalten. Insbesondere in autoritär regierten Staaten – aber nicht nur dort – gehen Menschenrechtsverletzungen und das Profiling von Minderheiten unter Mitwirkung von WissenschaftlerInnen und staatlichen Behörden Hand in Hand.[5] Die gesellschaftlichen, politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen, in denen weltweit DNA-Daten erhoben werden, sind komplex und heterogen. Eine ethisch verantwortungsvolle, analytisch differenzierte Arbeit ist nur auf einer soliden Kooperationsbasis möglich, in die MinderheitenvertreterInnen sowie Forschende mit einschlägiger juristischer und sozialwissenschaftlicher Fachkompetenz eingebunden werden müssen.
Aus den hier dargelegten Gründen wenden wir uns mit Nachdruck an Sie, die Verantwortlichen der Charité und der Berliner Politik, und fordern Sie auf, die Entscheidung zur Schließung des Labors zurückzunehmen oder auf die Rücknahme hinzuwirken. Sorgen Sie für eine unabhängige, verlässliche und ausreichende Finanzierung der universitären Forensischen Genetik aus Mitteln des Wissenschaftsministeriums oder anderen Landeshaushaltsmitteln. Zudem sollte ein interdisziplinäres Board eingerichtet werden, um die Einhaltung methodischer und ethischer Standards zu gewährleisten und weiterzuentwickeln.
Wir alle wollen, dass die Ermittlungsbehörden ihre Arbeit im Einklang mit wissenschaftlichen, rechtlichen und ethischen Standards leisten. Niemand kann ein Interesse daran haben, dass die Qualität der kriminalistischen DNA-Analytik in Deutschland in diesen Punkten absinkt. Nur mit einer starken und gesicherten Position an den Universitäten kann die Forensische Genetik ihre Rolle als Vertreterin akademischer Sorgfalt, Integrität und Verantwortung erfüllen. Die Schließung ihrer Labore ist dagegen äußerst kontraproduktiv und sogar gefährlich.
Fußnoten
[1] www.wie-dna.de. Unsere letzte Stellungnahme finden Sie unter https://www.wie-dna.de/2021/03/10/shut-down-charite-forensic-dna-lab/. Siehe außerdem die Aufstellung der Publikationen aus dem Kontext unserer Initiative: https://www.wie-dna.de/publikationen/ sowie unsere Stellungnahmen: https://www.wie-dna.de/stellungnahmen/. Zu beachten ist außerdem die große Anzahl an Medienbeiträgen, in denen wir in den letzten vier Jahren unsere Kritik und unsere Vorschläge für einen angemessenen Umgang mit DNA-Analysen in der Forensik formuliert haben: https://www.wie-dna.de/pressespiegel/
[2] Lipphardt, Anna, Peter Pfaffelhuber, Veronika Lipphardt, and Matthias Wienroth (2018): “Fahndung nach dem genetischen Phantom: Bayern will umstrittene DNA-Analyse erlauben.” https://netzpolitik.org/2018/fahndung-nach-dem-genetischen-phantom-bayern-will-umstrittene-dna-analyse-erlauben/, (11.3.2021).
[3] Open Letter by the German Working Group of the International Society for Forensic Genetics, www.isfg.org/files/Brief_Charite_Berlin_2021-03-03.pdf (11.3.2021).
Open Letter by the German Stain Commission, www.gednap.org/wp-content/uploads/2021/03/Vorstand_Charite_2021_Spurenkommission.pdf (11.3.2021).
Statement by the German Society for Forensics (DGRM), www.dgrm.de/fileadmin/PDF/user_upload/Stellungnahme_Charite_UFG_DGRM.pdf (11.3.2021).
Siehe auch den Blog des Biologen und Forensikers Cornelius Courts: https://scienceblogs.de/bloodnacid/
[4] https://yhrd.org
[5] Moreau, Yves. 2019. “Crack down on Genomic Surveillance.” Nature 576 (7785): 36–38. doi:10.1038/d41586-019-03687-x
Forzano, Francesca, Maurizio Genuardi, and Yves Moreau. 2021. “ESHG Warns Against Misuses of Genetic Tests and Biobanks for Discrimination Purposes.” European journal of human genetics: EJHG. doi:10.1038/s41431-020-00786-6
Jones, Kathryn M., Robert Cook-Deegan, Charles N. Rotimi, Shawneequa L. Callier, Amy R. Bentley, Hallam Stevens, Kathryn A. Phillips, Yves Moreau et al. 2021. “Complicated Legacies: The Human Genome at 20.” Science (New York, N.Y.) 371 (6529): 564–69. doi:10.1126/science.abg5266
Ellebrecht, Nils and Dominik Weber (in print). Verbotener function creep: Genetische Herkunftsbestimmung im Spannungsfeld forensischer DNA-Analysen, polizeilicher Ermittlung und rechtlicher Vorgaben.
Ellebrecht, Nils and Dominik Weber (2020): “Risiken erweiterter DNA-Analysen. Rechtliche und institutionelle Regulierung in den Niederlanden und England/Wales.” Kriminalistik 1/2020.
Lipphardt, Veronika/ Rappold, Gudrun/Surdu, Mihai (forthcoming): Representing vulnerable populations in genetic studies: The case of the Roma. Preprint DOI: 10.13140/RG.2.2.13286.04165
Lipphardt, V./Surdu, M. (under review): DNA Data from Roma in forensic genetic studies and databases: Risks and challenges. Preprint DOI: 10.13140/RG.2.2.16641.48484
[6] Lipphardt, Veronika. 2018. “Vertane Chancen? Die aktuelle politische Debatte um Erweiterte DNA-Analysen in Ermittlungsverfahren.” Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 41 (3): 279–301. doi:10.1002/bewi.201801900