Stellungnahme zu den politischen Maßnahmen in der Corona-Pandemie

Stellungnahme zu den politischen Maßnahmen in der Corona-Pandemie

Stellungnahme zu den politischen Maßnahmen in der Corona-Pandemie

Wir, die KritMeds Leipzig, möchten Stellung beziehen zu der in den letzten Wochen zunehmend lauteren Kritik an den politischen Maßnahmen im Kontext der Corona-Krise. Unser Anspruch an uns selbst ist es, das Gesundheitssystem und die Gesundheitspolitik kritisch zu hinterfragen und die Wechselwirkungen zwischen Medizin und Sozialem in den Fokus der Aufmerksamkeit zu rücken. Die Corona-Krise ist hier – leider – ein greller Scheinwerfer, der einerseits die Defizite einer rein an ökonomischen Maßstäben orientierten Gesundheitspolitik offenlegt (siehe dazu und weitergehend: Krankenhaus-statt-Fabrik 1), und andererseits die vielseitigen Wechselwirkungen zwischen Gesundheit und allen anderen Bereichen unseres Lebens deutlich werden lässt. In diesem Spannungsfeld bewegt sich die Politik, die Medizin, die Wissenschaft und jede*r von uns.

Es äußern immer mehr Menschen Zweifel an den aktuellen Maßnahmen zum Infekionsschutz. Das erleben auch wir als Medizinstudierende in unserem direkten persönlichen, medizinischen und studentischen Umfeld. Hinter diesen kritischen Stimmen verbergen sich jedoch Positionen, die ganz unterschiedlich begründet sind: Von Existenznot über Misstrauen gegenüber weitreichenden oder inkonsequent erscheinenden staatlichen Eingriffen bis hin zu antisemitischen und rassistischen Motivationen. Sie finden in der Kritik an der aktuellen Politik zusammen – aber sie gehören nicht zusammen. Der berechtigte politisch-demokratische Diskurs über die richtige Lösung für ein Problem, auf das wir als Gesellschaft nicht gut vorbereitet waren, darf nicht benutzt werden, um Hass zu schüren und diskriminierende und ausgrenzende Ideologien zu fördern.

Die Unterscheidung der unterschiedlichen Positionen scheint auf den ersten Blick schwer zu fallen, ebenso wie es in der aktuellen Situation nicht leicht ist, präzise zwischen noch verhältnismäßigen und zu weitreichenden Maßnahmen zu unterscheiden. Tatsächlich aber lässt sich beides erreichen. Grundlage ist der kritische Blick auf die verfügbaren Informationen und die Auseinandersetzung mit der Motivation von Akteur*innen.

So formieren sich auch hier in Leipzig Protestbewegungen. „Bewegung Leipzig“, der Leipziger Ableger des “Demokratischen Widerstandes”, hat schon mehrfach, zuletzt am Montag den 18.05. (Stand 22.05.), zu Demonstrationen „für Grundrechte“ und “für Freiheit” und gegen Corona-Schutzmaßnahmen aufgerufen. 400 bis 500 Demonstrant*innen versammelten sich letztes Wochenende auf dem Marktplatz, während gleichzeitig 150 Menschen dem Aufruf des Bündnisses “Leipzig nimmt Platz” zur Gegendemonstration gefolgt waren. Während die Demonstrationen mit “offenen Mikros” zunächst unverfänglich erschienen, so haben Recherchen von “LeipzigNimmtPlatz” und “Nazifrei Kleinzschocher” Verbindungen zu rechten Netzwerken dargelegt 2 . Die Berliner Initiative “Demokratischer Widerstand” vertritt u.a. die Ansicht, dass uns unsere demokratischen Freiheitsrechte im Rahmen des momentanen “Diktat der Angst” und der “Faschisierung der Gesellschaft” 3 von “Angela Merkel, (den) SPD-Schergen und ihre(n) FreundInnen” genommen werden, um uns davon abzulenken, dass “der Finanzmarktkapitalismus und das mit ihm verbundene Establishment (…) soeben vor unser aller Augen kollabiert” ist. Hier wird die Existenz des Coronavirus also nicht geleugnet, wohl aber seine Ernsthaftigkeit. Es handele sich hier also um eine geplante und zentral organisierte Panikmache, um die Menschen zu unterdrücken. Das “Hauptstadtstudio” des Demokratischen Widerstandes besteht aus Anselm Lenz und Hendrik Sodenkamp, die sich als ehemals linksliberal bezeichnen und regelmäßig im Querfrontmagazin Rubikon publizieren, sowie Koautoren des Buches “Die Öko-Katastrophe – Den Planeten zu retten, heißt, die herrschenden Eliten zu stürzen” sind. Es lassen sich politisch links anmutende Positionen wie Klimaschutz, Kapitalismuskritik und Kritik an Polizeigewalt wiedererkennen. Das bedeutet nicht, dass hier linke und rechte Meinungen zusammentreffen. Vielmehr werden linke Positionen und Codes übernommen und dabei klar definierte Schuldige für gesellschaftliche Phänomene gesucht 4 , was ein Merkmal extremer Ideologien ist. Weitere häufig zitierte Quellen sind der YouTube Channel “KenFM” 5 , über welchen Ken Jebsen, der auch bei den Berliner Hygiene Demos anwesend war, unter anderem verbreitet, Bill Gates habe Deutschland und die deutschen Medien fest im Griff und Deutschland führe Zwangsimpfungen durch. Auch Videos mit Wolfang Wodarg, einem Lungenarzt, der ähnliche Verschwörungstheorien vertritt, findet man dort 6 .

Gemeinsam ist ihnen, dass sie glauben, dass hinter den Kulissen Ereignisse oder ganze Systeme durch mächtige Akteure gelenkt werden. Es gibt dann keinen Zufall, keine Ambivalenz, keine Wechselwirkungen und keine Unsicherheiten. Es gibt nur profitierende Verschwörer und machtlose Opfer 7. Interessant ist, dass vermehrt die Menschen an Verschwörungstheorien glauben, die starkes Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen haben und einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn aufweisen 8 . Selbst nehmen sie sich als selbstständig denkende Bürger wahr, die Gegebenes hinterfragen und sich ein eigenes Bild machen möchten. Statt jedoch nach strengen wissenschaftlichen oder journalistischen Kriterien einen möglichen Zusammenhang herzustellen und dabei klar die Objektivität der Daten von der Subjektivität der Interpretation zu trennen, werden Einzelfälle, Vermutungen und ungeprüfte, wenn nicht gar falsche, Informationen verwendet und miteinander in Verbindung gesetzt. So lassen sich vermeintlich konkrete Auslöser als Ursache für abstrakte und unverständliche Vorgänge identifizeren. Das macht es besonders verlockend, den geschaffenen Zusammenhängen Glauben zu schenken. Konsequenz ist zugleich, einzelne Personen oder Menschengruppen für gesellschaftliche und politische Vorgänge verantwortlich zu machen. So wiederum kann eine Antwort auf echte gesellschaftliche Probleme, Ängste und Unsicherheiten gegeben werden 7 .

In diesem Zusammenhang ist bedeutsam, dass ein vermehrter Glaube an Verschwörungstheorien bei Menschen existiert, die befürchten, die Kontrolle über ihr Leben zu verlieren 9 . Dies könnte ein Erklärungsansatz sein, wieso es zu Krisenzeiten und im Zusammenhang mit Krankheiten – also besonders auch während Epidemien – vermehrt zur Verbreitung von Verschwörungstheorien kommt. So kann auch das Eindringen von Marktlogiken in soziale Bereiche wie das Gesundheitssystem Angst machen 10 . Auch der Machtverlust von Staaten gegenüber eines globalisierten Finanzmarktes oder von der WHO gegenüber einzelnder Philantropen wie Bill Gates ist furchteinflößend, der Klimawandel ebenfalls. Kein Gefühl des Kontrollverlustes, keine Unsicherheit und keine Ängste rechtfertigen jedoch die Suche nach Sicherheit in der Beschuldigung Einzelner oder von Menschengruppen. Denn dieser Reflex begründet auch den Antisemitismus, der von der Verschwörungstheorie einer angeblichen jüdischen Weltherrschaft gespeist wird und der in Europa im letzten Jahrhundert zu über fünf Millionen Ermordeten geführt hat 11 .

Wir, die KritMeds Leipzig, möchten an dieser Stelle nicht alle zirkulierenden Mythen als solche entlarven. Das ist an anderer Stelle ausreichend geschehen 12 . Wir sehen die als vermeintliche Belege für solche Theorien angeführten Beispiele als Ausdruck der Notwendigkeit einer anderen transparenten, demokratischen, gerechten und nachhaltigen – (Gesundheits-) Politik. Die paternalistische Grundhaltung, die sich im Ruf des Präsidenten des Weltärztesbundes, Frank Ulrich Montgomery, nach einer Impflicht ausdrückt 13 , wirft ebenso wie die persönlichen Absprachen des Gesundheitsministers Jens Spahns mit der Pharmaindustrie über die Lieferung neuer Antikörpertests 14 ein grelles Licht auf aktuelle Probleme unserer Gesundheitspolitik. Wenn China und die Gates-Foundation die größten Geldgeber der WHO sind, weil andere Staaten immer weniger Beiträge zahlen, dann darf es nicht überraschen, dass sich das auf die globale Gesundheitspolitik auswirkt 15. Und wenn Milliarden Euro Staatshilfen an die Lufthansa gehen, während die unmenschlichen Arbeitsbedingungen in Schlachtbetrieben und Amazon-Lagerhallen nur aufgrund von vermehrten Coronafällen in der Öffentlichkeit diskutiert werden und viele kleine Geschäfte durch die Kontaktverbote existenzbedroht sind, dann kann zurecht die Frage nach der sozialen Gerechtigkeit und der Motivation der Entscheidungträger*innen gestellt werden. Die Krise hat soziale Ungleichheiten verstärkt und die Folgen eines kapitalistischen Gesundheitssystems und von Globalisierung verdeutlicht. Sie hat uns allerdings auch gezeigt, wie schnell Treibhausgasemissionen reduziert werden können und wie stark eine demokratisch gewählte Regierung gegenüber Wirtschaftsinteressen auftreten kann, wenn Menschenleben bedroht sind. Die sozialen, politischen, wirtschaftlichen und gesundheitlichen Veränderungen werden vom Umgang Aller mit diesen neuen und alten Unsicherheiten und Ungerechtigkeiten abhängen.

Auch wir als Kritische Medizin Leipzig beobachten und hinterfragen die aktuelle Situation und fordern grundlegende politische Änderungen. Wir fordern ein gerechtes und nachhaltiges Gesundheitssystem, in dem die sozialen Einflussfaktoren auf Krankheitsentstehung berücksichtigt werden und der Mensch im Mittelpunkt steht. Dazu gehört der gleichberechtigte Zugang zu medizinischer Versorgung, Wohnraum und finanzieller Sicherung für alle Menschen unabhängig vom Einkommen, Herkunft, Religion, Wohnort, Gender oder Hautfarbe. Dazu gehört ein Gesundheitssystem, dass nicht von kapitalistischen Interessen dominiert wird und das nicht auf die Erwirtschaftung von Profiten ausgelegt ist. Wir fordern eine Aufwertung der nichtgewinnbringenden, aber unbezahlbaren Fürsorge-Arbeit in unserer Gesellschaft. Wir fordern eine staatlich finanzierte und demokratisch gesteuerte globale Gesundheitspolitik und Medikamentenproduktion, um Nationalismus und privatem Profit keinen Raum zu geben.

Gerade als Medizinstudierende müssen wir uns der Komplexität einer Krankheit, von ihrer Entstehung bis zur Behandlung stellen. Auch deswegen ist es unerlässlich, kritisch zu sein und zu bleiben. Das bedeutet aber auch, Unsicherheiten aushalten zu müssen, selbst wenn dadurch Ängste verstärkt werden. So wie die Naturwissenschaft ihre Erkenntnisse stets selbst hinterfragen muss und nie eine endgültige Wahrheit finden wird, müssen auch wir unsere Sicherheiten stets selbst hinterfragen. Dem Kontrollverlust durch Krankheit in einer globalisierten und kapitalistischen Welt können wir uns nur gemeinsam stellen. Eines ist jedoch sicher: Ausgrenzung von Menschen oder Menschengruppen kann nie die Lösung sein, da dies nur eine Vereinfachung und Verschiebung von realen, aber komplexen Ängsten darstellt. Die Beschuldigung und Ausgrenzung von Menschen lehnen wir vehement ab. Die Verbreitung von Verschwörungstheorien und antisemitischen Denkstrukturen werden wir als kritische Menschen und Kritische Medizinstudierende nicht dulden, sondern uns der Unsicherheit von Leben und Krankheit gemeinsam stellen.

Eure kritMed Leipzig